Abgeordnetenhauswahl in Berlin - Das offene Chaos

In Berlin gibt es nach dem heutigen Wahlsonntag ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Franziska Giffey (SPD) und Bettina Jarasch (Die Grünen). So unübersichtlich wie derzeit noch die Mehrheiten sind, so unübersichtlich verlief auch die Wahl.

Franziska Giffey nach der Stimmabgabe / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die wohlgeordneten Jahre mit klaren Mehrheiten und mit Zustimmungen quer durch alle Bevölkerungsschichten sind vorbei. Es gibt keinen Käfer von Volkswagen mehr, die Volkshochschulen sind leergefegt, und Volksparteien zerbröckeln auf das respektable Format von Mittelparteien. Was seit heute auch auf Bundesebene gilt, wo es fortan wohl eine Regierungskoalition aus drei Parteien geben wird, das gilt für das Land Berlin schon seit dem zweiten Senat des nun scheidenden Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD): It takes three to tango!

Bis dato setzten sich diese drei in Berlin aus SPD, Grünen und Linkspartei zusammen. Das könnte nach dem heutigen Urnengang zwar auch weiterhin so bleiben, möglichweise aber unter neu verteilten Vorzeichen. So sehen die aktuellen Prognosen im ZDF die SPD unter der ehemaligen Bundesfamilienministern Franziska Giffey vorne, während die ARD die Grünen unter Spitzenkandidatin Bettina Jarasch in Führung sieht. Letztere stelle sich schon einmal auf eine lange Nacht ein, wie sie am frühen Abend auf der Wahlparty der Grünen mitteilte. Später sagte sie in der Berliner Elefantenrunde, dass sie am liebsten eine „progressive Koalition unter grüner Führung“ wolle. Ob das möglich sein wird, werden die Auszählungen zeigen. Auf die aber wird man noch länger warten müssen, da zunächst die Stimmzettel der Bundestagswahl ausgezählt werden.

Kopf-an-Kopf-Rennen

Das Einzige also, was derzeit sicher ist: An der Spree wird es bis tief in die Nacht ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben – ein leicht chaotisches und unübersichtliches zudem. Denn die Berliner durften am heutigen Sonntag gleich sechs Kreuze abgeben: zwei für den Deutschen Bundestag, die weiteren vier für Abgeordnetenhaus und Bezirksversammlung sowie für den Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. Nicht nur unter den Wahlberechtigten hat das gelegentlich zu einigen Verwirrungen geführt; auch die Landeswahlleitung selbst schien zuweilen den Überblick verloren zu haben.

So meldeten gleich mehrere Wahllokale – unter anderem in Friedrichshain/Kreuzberg und in Charlottenburg/Wilmersdorf – gegen Mittag, dass ihnen die Wahlscheine ausgegangen seien; teilweise mussten Wahllokale sogar vorübergehend schließen. In anderen Wahllokalen wiederum lagen falsche Stimmzettel zum Ausfüllen bereit. Ein Tohuwabohu, das unter anderem dazu geführt hat, dass sich der Bundeswahlleiter kurz vor Schluss via Twitter in die Wahl einschalten musste: „Wegen vertauschter Wahlzettel ist es am Sonntag in einigen Berliner Wahllokalen leider zu Verzögerungen und ungültigen Stimmabgaben gekommen. Der Bundeswahlleiter ist im engen Austausch mit der zuständigen Landeswahlleiterin. Wegen fehlender Stimmzettel für die Bezirksverordnetenversammlung kann diese Wahl bis Wahlende nachgeholt werden. Die ordnungsgemäße Durchführung der Bundestagswahl ist somit gewährleistet.“

Kopflose Wahlleitung

Die Stimmabgabe war also gesichert, indes soll es an einigen Wahllokalen zu Wartezeiten von bis zu 90 Minuten gekommen sein. Die Landeswahlleitung blieb bis zum Schluss kopflos: „Wie viele Prozent der Wahllokale das betroffen hat, können wir derzeit noch nicht überblicken“, so ein Mitarbeiter. Zunächst gehe es darum, die Wahl geordnet zu Ende zu bringen und danach kümmere man sich um Aufklärung. 

Aufklärung wird es nun auch in der alles entscheidenden Frage geben müssen, wie es in Zukunft im Abgeordnetenhaus sowie auf dem Chefsessel im Roten Rathaus weitergehen kann. Zwar hatte sich die grüne Spitzenkandidatin Jarasch im Vorfeld mehrfach für eine Fortsetzung der bisherigen rot-rot-grünen Regierung ausgesprochen, Franziska Giffey indes hat sich bis zuletzt alle Optionen offengehalten – zur Freude des aktuell Drittplatzierten, des CDU-Bürgermeisterkandidaten Kai Wegner. Der hat im Wahlkampf stets für ein Bündnis mit FDP und SPD geworben, auch das wäre rein rechnerisch wohl weiterhin möglich. Die Zeiten, in denen alles so übersichtlich und geordnet war, sind eben vorbei.
 

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