Attila Hildmann - Moderne Feindesliebe

Wer die Freiheit verteidigt, unser wohl höchstes demokratisches Gut, muss die Idioten immer mitverteidigen. Doch was regt uns an Figuren wie Attila Hildmann so auf? Sophie Dannenberg kommt zur Erkenntnis: Die Tatsache, dass er trotzdem einer von uns ist - und das kränkt uns.

Bei Attila Hildmann handelt es sich um keinen üblichen Meinungskampf laut Sophie Dannenberg / dpa
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Gerade bin ich dabei, meinen CO2-Abdruck zu vergrößern. Ich mache nämlich den Führerschein. Meine Kinder kommen demnächst in eine Wald-Kita, und die liegt außerhalb. Damit sie tagsüber gesund atmen können. Zusammen mit den Kindern anderer umweltbewusster Eltern verpeste ich dann die Luft mit Autoabgasen. Im Theorieunterricht fragte neulich der Fahrlehrer, wer gegen eine grundsätzliche Geschwindigkeitsbegrenzung von Tempo 130 auf der Autobahn sei. Zwischen den schüchternen 18-Jährigen, die sich nicht trauten zu antworten, begannen meine Gedanken zu schweifen. 

Ich bin ja auch für den Umweltschutz und gegen rasende Idio­ten. Es gibt wahrscheinlich kein vernünftiges Argument gegen das Tempolimit. Aber dann dachte ich an die Freiheit, die stets das Unvernünftige mit umschließt. Ohne einen Schuss Idiotie ist sie eben nicht zu haben. Wer also die Freiheit, unser wohl höchstes demokratisches Gut, verteidigt, muss die Idioten immer mitverteidigen. Sie, und, wer weiß, vielleicht nur sie, sind die Garanten der Freiheit. Die Demokratie erfordert durchaus eine moderne Form der Feindesliebe, die Liebe zu den Irren. 

Wir waren nie auf der Agora

Apropos. Ich miste gerade Bücher aus, und dabei landeten gleich drei Kochbücher von Attila Hildmann, dem veganen Ex-Starkoch, im Karton. Hildmann dreht politisch immer mehr am Rad, aber sein Rezept für vegane Bolognese ist hervorragend. Ich weiß nicht, ob ich mich verdächtig mache, wenn ich die noch koche, während Hildmann mit der Reichskriegsflagge wedelt und die Todesstrafe für Volker Beck fordert. Mir fällt jetzt wieder auf, wie widersprüchlich die Demokratie gelegentlich sein kann. Bis die sozialen Medien auf den Plan traten, bildeten wir uns ja irgendwie ein, dass wir immer noch auf der Agora säßen. Surprise, surprise, da saßen wir aber nie. Uns wird mehr und mehr bewusst, wer da alles wählen darf. Wir ahnten wohl nicht, dass es einen Meinungsraum gibt, der so abseits von Bildung und gutem Geschmack liegt. Und der so weitläufig ist. 

Ich habe mich lange gefragt, warum sich plötzlich alle Welt über die Radikalisierung von Attila Hildmann aufregt. Ich hielt das erst für den üblichen Meinungskampf. Aber ich glaube, darum geht es gar nicht. Es geht um die Erkenntnis, dass wir keine Plutokraten sind. Attila Hildmann ist einer von uns. Und das kränkt uns.

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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