Attentat in Würzburg - „Der Pop-Dschihad soll Jugendliche ansprechen“

Jugendliche wie der Axt-Attentäter von Würzburg sind besonders empfänglich für die Propaganda des IS, sagt Nils Böckler vom Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt. Im Interview erklärt er, wie Selbstradikalisierung funktioniert und warum auch die besten Integrationsversuche manchmal vergebens sind

Das Bild soll laut der IS-Nachrichtenseite Aamaq News Agency den Attentäter zeigen / picture alliance
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Autoreninfo

Mareike König hat Psychologie und VWL an der Universität Mannheim studiert. Sie ist freie Journalistin und beginnt im Herbst ihren Master in Politischer Psychologie an der Universität Belfast.

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Herr Böckler, der Terroranschlag in Würzburg wurde von einem mutmaßlich 17-jährigen Afghanen ausgeführt. Wie kann es sein, dass so junge Menschen solche Taten begehen? 
Wenn wir uns die IS-Propaganda generell anschauen, können wir feststellen, dass sie Menschen anspricht, die aus ihren Leben gerissen wurden und in ihren Deutungsmustern nicht gefestigt sind. Das ist im islamistischen und im rechtsextremistischen Bereich so. Die meisten Radikalisierungsprozesse finden im Alter zwischen 14 und 35 Jahren statt. Es ist die Zeit vom Eintritt in die Pubertät bis zum Erreichen einer gefestigten gesellschaftlichen Mitgliedsrolle.  

Nils Böckler

Warum sind Menschen in diesem Alter so empfänglich für Propaganda?
Jugendliche suchen sich Idole, sie versuchen jemandem nachzueifern. Und Ideologien sind leider sehr einfach aufgebaut: Sie geben ein klares Freund-Feind-Schema vor. Der eigenen Gruppe wird eine moralische Höherwertigkeit zugeschrieben. Das ist besonders reizvoll für Jugendliche, die sich in einer pluralisierten Norm- und Wertegemeinschaft verlieren. Das passiert automatisch, wenn man sich in der Adoleszenz von der Familie löst. Aber eben auch, wenn man sich plötzlich in einer anderen Kultur wiederfindet. Problematisch wird es, wenn man keine personalen oder sozialen Ressourcen hat, diese Konflikte zu bewältigen. Dazu bedient sich der IS bei der Propaganda einem gewissen Hollywood-Chic. Dieser Pop-Dschihad soll die Jugendlichen ansprechen. 

Junge Menschen mit Migrationshintergrund – auch noch in der zweiten und dritten Generation – haben eine zusätzliche Entwicklungsaufgabe: Sie haben einen ungewohnt klingenden Namen, vielleicht eine andere Hautfarbe und das macht sie, zumindest ihrem persönlichen Gefühl folgend, als Außenstehende erkennbar – völlig egal, ob sie in Deutschland geboren sind oder nicht. Sie haben häufig das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören. 
    
Was hat dann konkret der Islam mit der Radikalisierung zu tun? 
Die Jugendlichen brauchen einen neuen Islam, der mit der westlichen Lebenswelt kompatibel ist. Und von harmlosen Webseiten über den Islam ist der Weg sehr kurz zu den Propaganda-Plattformen von Islamisten. Das latente Gefühl von „Fremdsein“ wird gezielt in der Propaganda vom IS und von Al Qaida angefacht und ist direkt auf die deutschen Verhältnisse zugeschnitten. Islamophobie, Mohammed-Karikaturen, das Verhalten der Bundesrepublik in internationalen Konflikten: All das wird in das Narrativ von Ausgrenzung und Fremdheit eingeflochten. „Schau, die Menschen in Deutschland wollen dich sowieso nicht haben. Guck dir an, wie sie gegen deine Brüder und Schwestern in Afghanistan vorgehen. Egal, was du tun wirst, sie werden dich nicht dazu gehören lassen. Hier ist unsere Hand: Komm zu uns.“ Emotionen werden gezielt dadurch angesprochen, dass zum Beispiel Bilder von Kindern gezeigt werden, die bei einem Bombenangriff ums Leben kamen.  

Bei der Radikalisierung sind viele kleine Einzelschritte entscheidend: Salafistische Prediger wie Pierre Vogel knüpfen an dieselbe Ideologie wie Dschihadisten an, wenn sie Menschen in Gläubige und Ungläubige, in Gut und Böse einteilen. Diese Differenzierung kann der erste Schritt in eine Richtung sein, in der es möglich wird, die fremde Gruppe, die Ungläubigen auszuschließen. Und dann ist der nächste Schritt – die moralische Rechtfertigung – Gewalt gegen diese Ungläubigen anzuwenden, gar nicht mehr so schwer. Bei vielen Fällen merken die Jugendlichen selbst gar nicht, dass sie langsam in dschihadistische Kreise abdriften. 
 
Momentan gehen die Behörden von einer „Selbstradikalisierung“ bei dem Attentäter von Würzburg aus? Was genau ist darunter zu verstehen? 
Die Selbstradikalisierung ist mit dem „Lone-Wolf“-Phänomen entstanden und ist eine sehr bewusste Strategie extremistischer Gruppen. Nach 9/11 und dem jahrelangen Kampf gegen den Terror war die Erkenntnis von Al Qaida und nahestehenden Verbünden: Wir brauchen Leute, die nicht direkt zu uns gehören, die sich aber mit der Ideologie identifizieren. Die sollen ihre Anschläge in den Ländern begehen, in denen sie aufwachsen, wo sie sich gut auskennen. Und sie sollen nicht auf Instruktionen warten. Sie sollen flexibel reagieren können und dann zuschlagen, wenn sie meinen, es sei der beste Zeitpunkt. Extremistische Gruppen sind nicht mehr Choreografen der Gewalt, sondern sie sind ideologische Zulieferer. 

Sowohl der Attentäter von Nizza als auch der aus Würzburg waren niemandem durch islamistische Verbindungen oder Überzeugungen aufgefallen. Wie schnell können sich Menschen radikalisieren? 
Islamistische Organisationen stellen heute Inhalte ins Netz, die wenige Minuten lang und auf sehr wenige Aussagen reduziert sind. Als Interessierter kann man da ein bisschen Schaufensterbummel betreiben, sich mal hier, mal da bedienen, ohne sich wirklich mit irgendwelchen komplexeren Zusammenhängen auseinandersetzen zu müssen. Als Al Qaida damals für Rekruten warb, waren die Videos gute anderthalb Stunden lang, monoton und ziemlich kompliziert. 

Wenn ohnehin schon suizidale oder narzisstische Tendenzen vorliegen, dann bedeutet Radikalisierung, hier nur noch die Ideologie draufzusetzen und dem Ganzen eine andere Konnotation zu geben. Das ist für extremistische Organisationen dann der einfachste und beste Weg. Das Phänomen des politisch motivierten Attentates, das eigentlich hoch strategisch war, hat sich immer mehr mit dem Phänomen des Amoklaufs vermischt: In Orlando, in San Bernardino, beim Attentat am Frankfurter Flughafen, in Nizza und jetzt in Würzburg. 
 
Kann es sein, dass das Umfeld gar nichts von einer Radikalisierung mitbekommt? 
In der Regel gibt es Hinweise auf eine Radikalisierung, das sieht man, wenn man sich mit Radikalisierungswegen beschäftigt. Meistens beginnt die Radikalisierung mit einem Problem, für das der Mensch keine Lösung findet. Das können politische Konflikte im Heimatland sein, die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit oder auch der Tod einer nahestehenden Person. 

Die Ideologie lenkt den Fokus auf das soziale Leid der Muslime. Und bietet dafür direkt eine Lösung an: den Dschihad. Tatsächlich ist ein Anzeichen für Radikalisierung auch die Abkehr von den „Ungläubigen“. Und eine sehr rigide, abwehrende Haltung gegen jeden verbalen Angriff auf die eigene Gruppe, also auf die eigene Identität. Wichtig ist aber auch hier, dass terroristischer Einzeltäter nicht gleich terroristischer Einzeltäter ist! Das hat man in Nizza und in Würzburg gesehen: In Nizza gab es ausführliche Vorbereitungen, Waffen wurden gekauft, Geld überwiesen. Es gab eine kriminelle und gewalttätige Vorgeschichte. In Würzburg kamen Gelegenheitswaffen zu Einsatz, es gab einen Abschiedsbrief und ein Bekennervideo. Und bei beiden wurde die Radikalisierung nicht bemerkt. 
 
Wenn Sie beide Fälle vergleichen – erst Nizza, dann Würzburg: Welche Rolle spielen Nachahmungseffekte bei der Radikalisierung?  
Untersuchungen zum Nachahmungseffekt gibt es bislang nur bei Amokläufern: Sie kommen zeitlich gehäuft vor und interessanterweise gleichen sich auch die Berufsgruppen der Amokläufer. Gerade bei Schulamokläufen kommt es sehr oft vor, dass sich die Jugendlichen intensiv mit ihren Vorgängern auseinandersetzen. Sie registrieren, wie die Medien und die Gesellschaft auf die Tat reagiert haben. Und sehr häufig versuchen sie, mit ihrer Tat noch eins draufzusetzen. Oder sie sehen den Amoklauf als eine Art Initiationsritus, um genau so zu werden wie das Vorbild.

Der Vorgänger liefert ein „kulturelles Skript“, an das sich der Nachahmer hält oder das er zu übertrumpfen versucht. Das Nachahmungsphänomen ist im Kalkül der terroristischen Gruppen angelegt: In Magazinen von Al Qaida zum Beispiel werden unter der Rubrik „Inspired by Inspire“ Anzeigen geschaltet, die Taten von Einzeltätern rühmen und zur Nachahmung aufrufen. 
 
Wie gefährlich sind junge männliche Flüchtlinge? Müssen wir jetzt Angst haben vor weiteren Attentätern? 
Es macht sicherlich keinen Sinn, darauf eine pauschale Antwort zu geben. Wir haben nach wie vor eine abstrakte Terrorgefahr. Es gibt Menschen, egal ob Flüchtling oder in Deutschland aufgewachsen, die sich entwurzelt fühlen, die bei den Sicherheitsbehörden noch nicht auffällig geworden sind und sich trotzdem selbst radikalisieren. Deshalb müssen wir präventiv ansetzen, bevor die Radikalisierung überhaupt startet. Wir müssen aufpassen, dass junge Menschen in Entwicklungskrisen nicht allein gelassen werden, dass sie gut begleitet und integriert werden. Und dieses Präventionsnetz müssen wir gerade auch für junge Flüchtlinge, die oftmals Traumatisierungen erlitten haben und zum Teil besonders schwere Krisen neben den ganz normalen Aufgaben eines Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu bewältigen haben, eng spannen. Da darf niemand durchfallen. 

Aber der Zugattentäter von Würzburg scheint sehr gut integriert gewesen zu sein: Er kam schnell in ein Wohnheim für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, zog zu einer Pflegefamilie, machte ein Praktikum und hatte sogar eine Bäckerlehre in Aussicht. Was soll man da noch tun?
Einige Schüler, die auf das Gymnasium oder die Realschule gegangen sind, sind an ihren Schulen Amok gelaufen. Arztsöhne haben islamistische Attentate in Deutschland geplant und Menschen mit einem Jurastudium sind aus der Bundesrepublik in den Dschihad gereist. Ihnen ist gemein, dass sie sich langsam von der Gesellschaft entfremdet haben. Bei einem Menschen, der seit relativ kurzer Zeit in einer neuen Kultur lebt, sind die sozialen Bindungsmuster noch sehr fragil. Wenn dann akute Krisen hinzukommen – wie offenbar der Tod des Freundes – und durch Sprachbarrieren der Rückgriff auf soziale Ressourcen zur Bewältigung erschwert wird, können Ideologie, sozialer Rückzug und Gewaltfantasien eine gefährliche Mischung ergeben. Radikalisierungsprozesse gehen jedoch zumeist mit Warnverhaltensweisen einher, die erkannt werden können, wenn das Umfeld sensibilisiert wird. Gerade in der Arbeit und Begleitung von Jugendlichen mit einem Flüchtlingshintergrund werden wir die Konzepte von Integration, Begleitung und auch psychologischer Versorgung noch weiter verbessern müssen.


Dipl. Päd. Nils Böckler ist Erziehungswissenschaftler und arbeitet am Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement (IPBm) in Darmstadt, wo er für Schulungen, Beratungen und Risikoanalyse im Bereich Extremismus zuständig ist. Zuvor war er an der Universität Bielefeld als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind terroristische Einzeltäter und autonome Zellen.

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