ARD-Sommerinterview - „Frau Baerbock, alles klar“

Die wirklich interessante Figur im jüngsten ARD-Sommerinterview heißt nicht Annalena Baerbock, sondern Tina Hassel. Mit großem Einsatz versucht die Leiterin des Hauptstadtstudios, ihren Ruf als Grünen-Verehrerin loszuwerden.

Annalena Baerbock im Gespräch mit Tina Hassel, Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Wer ist diese schlecht gelaunte Oberlehrerin, die da Annalena Baerbock gegenübersitzt, wie ihr Gegenüber das rechte Bein über das linke geschlagen? Das mag sich mancher Fernsehzuschauer gefragt haben, der am Sonntagabend das ARD-Sommerinterview mit der Grünen-Chefin und Kanzlerkandidatin eingeschaltet hat.

Untertitelt war die Interviewerin mit „Tina Hassel“ – aber war das wirklich dieselbe Tina Hassel, die 2018, begeistert vom Grünen-Parteitag, auf dem das Führungsduo Habeck/Baerbock gewählt wurde, twitterte: „Frische grüne Doppelspitze lässt Aufbruchsstimmung nicht nur in Frankreich spüren“, und die damit Diskussionen über die politische Unabhängigkeit öffentlich-rechtlicher Journalisten neues Futter gab?

Wer hat Tina Hassel diese Fragen aufgeschrieben?

Ja, es ist diese Tina Hassel, seit 2015 Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, die der einst so gefeierten Annalena Baerbock zur Begrüßung nur ein Lächeln schenkt und ansonsten so schnippisch und schlecht gelaunt agiert, als hätte sie die Wahl zur Intendantin erst vor einer halben Stunde verloren (in Wirklichkeit ist es schon knapp zwei Monate her). Ausführungen der Grünen-Kandidatin beendet sie gerne mal mit einem genervten „Frau Baerbock, alles klar“. Und wirkt angesichts all ihrer Erfahrung doch reichlich angestrengt, liest die Fragen, von vielen Ähs gespickt, von ihren Blättern ab, fast so, als hätte sie jemand anderes für sie aufgeschrieben.

Erste Frage: „Wen begrüße ich hier eigentlich: Angesichts von Umfragen, dass nur noch zwölf Prozent der Deutschen Sie im Kanzleramt sehen wollen, bezeichnen Sie sich da ernsthaft noch als Kanzlerkandidatin?“ Erster Schuss vor Baerbocks Bug. An der 40-Jährigen sind die vergangenen Wochen allerdings nicht spurlos vorbeigegangen – sie hat sich ein leicht lächelndes Pokerface aufgesetzt, das sie für die nächsten 60 Minuten nicht mehr ablegen wird. Klar, der Anspruch aufs Kanzleramt bestehe weiter, für sie sei es „wichtig, aus Fehlern zu lernen“. Sie und die Grünen stünden für den Aufbruch, gegen das „Durchwurschteln“, die Blockade-Politik der Union.

Doch Hassel feuert weiter: „Wie gehen Sie damit um, dass Sie als die zweite, die schlechtere Wahl wahrgenommen werden, die man jetzt einfach nicht mehr austauschen kann?“ Unfreundlicher hätte diese Frage auch ein Julian Reichelt auf Bild-TV nicht formulieren können. Spätestens jetzt müssen alle Grünen-Sympathisanten vor den Bildschirmen der Republik verstanden haben, dass auch in den Öffentlich-Rechtlichen die Schonfrist für die Grünen vorbei ist. In den sozialen Netzwerken mokieren sie sich über Hassel: „Respektlos, grenzüberschreitend und unprofessionell“ sei ihr Verhalten, von „persönlichen Tiefschlägen“ ist die Rede.

Bohren in der Habeck-Wunde

Hassel bohrt in der schwärenden Habeck-Wunde, will wissen, ob Baerbock ihm nach der Wahl den Erstzugriff auf ein Ministerium überlasse. Die Drangsalierte pariert mit dem Argument, die Grünen stünden für eine neue Art von Politik: „Es geht für uns nicht um Ministerien.“ Und fängt sich ein schnippisches „Dann halten wir fest – darauf wollen Sie jetzt nicht antworten“ ein.

Bei Afghanistan bohrt die ARD-Journalistin weiter: Warum haben mehrere grün (mit)-geführte Länder bis Juni nach Afghanistan abgeschoben? Baerbock verweist da auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes, der zu lange nicht aktualisiert worden sei. Gut sieht sie nicht aus, wenn sie die Realo-Grünen in Baden-Württemberg und Hessen verteidigen muss. Ihr „Wäre richtig gewesen, sich zu widersetzen“ ist ein Vorgeschmack auf zukünftige Konflikte innerhalb der Grünen in der Flüchtlingspolitik – sollten sie es in die Regierung schaffen.

1.000 Euro Förderung fürs Lastenrad

Auf die eingespielte Frage einer Hebamme, wie sie sich ihr Auto noch leisten können soll, wenn der Spritpreis weiter steigt („75 Euro Energiegeld sind für mich ein Witz!“), weicht Baerbock zunächst in Richtung Mindestlohn zwölf Euro aus – dabei würden Hebammen ihren Job sicher nicht machen, wenn er sich im Bereich des Mindestlohns bewegte. Dann lobt sie den Umstieg auf Elektroautos – auch gerne auf gebrauchte, worauf Hassel sie daran erinnert, dass das billigste für etwa 22.000 Euro zu haben ist. Baerbock verspricht eine Förderung von 9.000 Euro beim Kauf. Auch Bürger, die über den Kauf eines Lastenrads nachdenken, dürfen sich freuen: Sie bekommen unter einer grün geführten Regierung 1.000 Euro Förderung. Aber woher soll das Geld eigentlich kommen?

Diese Rechnung hat auch Tina Hassel noch offen. „Grüne Luftschlösser“, so nennt sie die Versprechungen im Wahlprogramm – sollten die Grünen es nicht schaffen, eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag zu bekommen, um die in der Verfassung festgeschriebene Schuldenbremse auszuhebeln, um wiederum die versprochenen 500 Milliarden Euro für Infrastrukturprojekte aufzunehmen. Für den Fall schiebt Baerbock die Schuld den anderen, den Bremser-Parteien in die Schuhe: „All diejenigen Parteien, die jetzt sagen, wir wollen in Kitas, in Infrastruktur investieren, die müssen dann so ehrlich sein zu sagen: ‚Okay, dann ändern wir nichts an der Corona-Situation, die gezeigt hat, dass die Schulen nicht digitalisiert worden sind.‘“

Die knappste Antwort gibt Baerbock übrigens bei der Frage eines ARD-Zuschauers zur Legalisierung von Cannabis: „Ja“.

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