Neujahrsansprache - Merkels verrutschte Bestandsaufnahme

Zum Ende des Jahres bringen wir eine Serie der monatlich meistgelesenen Texte auf Cicero Online. Den Anfang macht diese Kritik der Neujahrsansprache von Angela Merkel. Schon damals erkannte Alexander Marguier die Rat- und Kraftlosigkeit der Regierungschefin

Angela Merkel: mit höchstens halber Kraft ihres Amtes vor der Kamera / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Als vor langer, langer Zeit Helmut Kohls Neujahrsansprache nach einem Jahr einfach noch einmal ausgestrahlt wurde, war das ein Skandal. Denn das öffentlich-rechtliche Fernsehen stand im Verdacht, die Rede des Bundeskanzlers an sein Volk absichtlich recycled zu haben – um in einem subversiven Akt auf die Austauschbarkeit von solcherlei salbungsvollen Terminmitteilungen aufmerksam zu machen. Was auch gelang, weil es eine ganze Zeit dauerte, bis jemandem auffiel, dass hier das Programm vom Vorjahr abgespult worden war. Dass seither mehr Schwung in die Sache gekommen wäre, wird man trotzdem schwerlich behaupten können. Oder erinnert sich noch jemand an die Worte der Bundeskanzlerin vom 31. Dezember 2016?

Chefin einer geschäftsführenden Bundesregierung

Die Erwartungen sind zu diesem Anlass also traditionell so gering wie es der Erregungsfaktor ist. Gleichwohl stand Angela Merkels Fernsehansprache (heute um 19.20 Uhr im ZDF, ARD 20.10 Uhr) zum Jahreswechsel diesmal unter einem besonderen Vorzeichen, denn sie trat als Chefin einer bis auf weiteres lediglich geschäftsführenden Bundesregierung mit höchstens halber Kraft ihres Amtes vor die Kamera. Mehr als drei Monate nach der Wahl befindet sich Deutschland immer noch in einem seltsamen politischen Schwebezustand, was womöglich einigen Erklärungsbedarf mit sich bringt. Tatsächlich gibt sich die Kanzlerin in dieser Hinsicht einige Mühe. Zwar wimmelt es in ihrem Beitrag vor Floskeln und Banalitäten, die allesamt aus dem zurückliegenden Wahlkampf noch im Gehörgang kleben wie ein schlecht gereimter Schlagertext. Was zum Beispiel ist damit gemeint, wenn sie verkündet, „den Staat zum digitalen Vorreiter“ machen zu wollen oder „unsere Kinder mit bester Bildung und Weiterbildung auf den digitalen Fortschritt vorzubereiten“? Gleichwohl ist eine Botschaft durchaus vorhanden, zumindest zwischen den Zeilen.

Das gespaltene Land als Naturereignis

Halten wir uns also nicht länger mit Füllwörtern und Plastiksätzen auf, die am nächsten Tag sowieso wieder ins Soundbite-Depot kommen und dort ihrer gelegentlichen Wiederverwendung harren. Die eigentliche Grundaussage Angela Merkels zum regierungslosen Jahreswechsel ist folgende: Das Land ist gespalten, also erwartet nicht von mir, dass alles so reibungslos abläuft wie in glücklicheren Zeiten. Sie selbst scheint dieser vermeintlichen Spaltung allerdings seltsam enthoben zu sein; wer der Bundeskanzlerin zuhört, muss den Eindruck gewinnen, es handele sich um ein Naturereignis, welches wiederum in Ausübung quasipräsidentieller Verantwortung und unter Mühen wegmoderiert werden kann. Dass Merkel selbst die Ursache jener politischen Polarisierung sein könnte, die ihrer Lesart nach auch einer schnellen Regierungsbildung im Wege steht – dieser Gedanke wirkt geradezu abwegig: „Denn Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, haben uns Politikern den Auftrag gegeben, uns um die Herausforderungen der Zukunft zu kümmern und dabei die Bedürfnisse aller Bürgerinnen und Bürger im Auge zu haben. Diesem Auftrag fühle ich mich verpflichtet, auch und gerade bei der Arbeit daran, für Deutschland im neuen Jahr zügig eine stabile Regierung zu bilden.“ Auch und gerade, Auftrag, Deutschland, zügig. Noch Fragen?

Merkels Kunstgriff: der vermeintliche Gegensatz

Angela Merkels eigentlicher Kunstgriff besteht nicht in der Verwendung allfälliger Begriffe, die jetzt überall zitiert werden von wegen „Die Welt wartet nicht auf uns“ oder in jener profan-faustischen Bewusstseinswerdung dessen, „was uns im Innersten zusammenhält“ (nämlich die „Werte unseres Grundgesetzes“). Es ist vielmehr die Beschreibung einer gesellschaftlichen Dichotomie im Vorgriff auf politische Konstellationen. Die Bundeskanzlerin nennt also zwei Lager, die einander offenbar gegenüberstehen: „Die einen sagen, Deutschland ist ein wunderbares Land, in dem die Werte unseres Grundgesetzes gelebt werden. Ein Land, das stark und wirtschaftlich erfolgreich ist, in dem noch nie so viele Menschen Arbeit hatten wie heute. Ein Land mit einer weltoffenen und vielfältigen Gesellschaft, mit einem starken Zusammenhalt, in dem sich tagtäglich Millionen Menschen ehrenamtlich für andere engagieren, zum Beispiel im Sport, für Kranke und Schwache oder auch in der Flüchtlingshilfe.“ Dem gegenüber verortet Merkel „die anderen“, welche „sagen, es gibt zu viele Menschen, die an diesem Erfolg nicht teilhaben. Die nicht mit dem Tempo unserer Zeit mitkommen. Die sehen, dass es ihre Kinder in die Großstädte zieht und sie allein bleiben, in Gebieten, in denen vom Einkauf bis zum Arztbesuch der Alltag immer schwieriger wird. Die sich sorgen, dass es zu viel Kriminalität und Gewalt gibt. Die sich fragen, wie wir die Zuwanderung in unser Land ordnen und steuern können.“

Das ist nun wirklich ein bemerkenswerter Blick auf die Bundesrepublik dieser Tage. Denn worin soll da eigentlich der Gegensatz bestehen? Kann man Deutschland nicht als wirtschaftlich stark wahrnehmen und sich gleichzeitig dennoch Sorgen um „zu viel“ Kriminalität machen? Kein vernünftiger Mensch trägt entweder stets eine rosarote Brille oder sieht permanent schwarz. Warum also diese bizarre Aufteilung der Gesellschaft in Berufsoptimisten auf der einen und notorische Angsthasen auf der anderen Seite? Womöglich, weil sich eine Kluft viel einfacher überbrücken lässt, wo sie nicht existiert. Die gesellschaftliche Spaltung gibt es ja tatsächlich, nur eben nicht in der von Angela Merkel beschriebenen Form. Was die Bundeskanzlerin in ihrer verqueren Distanziertheit umschreibt, sind im wesentlichen die aus Kalkül übertriebenen Differenzen zwischen einer Merkel-CDU („ein Land, in dem wir gut und gerne leben“) und der Martin-Schulz-SPD („Zeit für mehr Gerechtigkeit“). Die Wiederauflage der Großen Koalition wäre demnach das ideale Heilmittel gegen jenen „Riss, der durch unsere Gesellschaft geht“. Und Merkel an der Spitze käme die Rolle einer versöhnlichen Mutter der Nation zu.

Ein Plan nur für die eigene Zukunft 

Selten hat eine Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Befindlichkeiten so verrutscht gewirkt wie in der Jahresendansprache anno 2017. Die Mischung aus nebulöser Wahlkampfrhetorik („Pflegeberufe stärken“, „Familien in den Mittelpunkt stellen“), gewagten Danksagungen an „Polizistinnen und Polizisten, die auch heute Abend für uns da sind und zum Beispiel die vielen Silvesterfeiern im Land schützen“ (es werden übrigens nicht die Feiern geschützt, sondern Feiernde vor anderen Feiernden) und kontrafaktischen Binsenweisheiten zum Thema Europa („solidarisch und selbstbewusste nach innen wie nach außen“) lassen Rat- und Kraftlosigkeit einer faktisch abgewählten Regierungschefin erkennen, die weder ein Gespür für die Gegenwart noch einen durchdachten Plan für die Zukunft zu haben scheint. Außer eben für die eigene.

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