Angela Merkel - Erpressbar

Angela Merkel muss derzeit viel einstecken. SPD-Chef Sigmar Gabriel bestimmt den nächsten Bundespräsidenten, die CSU ist schon lange nicht mehr auf ihrer Seite und ohne den türkischen Präsidenten Erdogan funktioniert der Flüchtlingsdeal nicht. Ihr Politikstil ist an ein Ende gekommen

Der türkische Präsident Erdogan und der künftige Bundespräsident Steinmeier setzen die Kanzlerin unter Druck / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Eine „Niederlage“ für die Union hat Finanzminister Wolfgang Schäuble die Kandidatenkür für das Amt des Bundespräsidenten genannt. Das ist auch so. Aber nicht nur. In der Causa Steinmeier zeigt sich ein Muster. Angela Merkel zahlt nach vielen, vielen Jahren des Erfolgs den Preis für ihren sehr eigenen Politikstil. Sie ist erpressbar geworden. Von Sigmar Gabriel und Horst Seehofer ebenso wie von Recep Tayyip Erdogan.

Zum aktuellen Fall. Was war passiert in den vergangenen Wochen und Monaten? Angela Merkel wollte Frank-Walter Steinmeier nicht als gemeinsamen Kandidaten der Großen Koalition. Sie wollte einen Kandidaten oder eine Kandidatin aus den Reihen der Union. Oder zumindest einen, den sie aufstellt. Wie so oft – gerade bei der Suche nach Bundespräsidenten – hat sie die Sache verschleppt, gezaudert, gezögert, taktiert. Bis SPD-Chef Sigmar Gabriel das Momentum für einen SPD-Kandidaten sah, dem Merkel dann zunehmend verzweifelt etwas entgegensetzen wollte. Dabei aber ließen ihre eigenen Leute sie im Stich.

Lange Schleppe an Verprellten

Angela Merkel hat ein instrumentelles Verständnis von Parteifreunden. Wann nützt ihr wer wie? Das ist die Frage, die sie sich in Personalangelegenheiten stellt. Und als der starke Kandidat Frank-Walter Steinmeier von Seiten der SPD aufgestellt wurde, versuchte sie auf den letzten Drücker, ein überzeugendes Gegenangebot aus denen eigenen Reihen zu präsentieren. Aber alle ließen sie offenbar hängen. Auch und gerade jene, die im Laufe ihres Lebens gerne einmal Bundespräsident oder Bundespräsidentin geworden wären. Wie Norbert Lammert, Wolfgang Schäuble und Ursula von der Leyen. Alle drei hatte Merkel in ihrem Drang ins Schloss Bellevue schon einmal ausgebremst. Und alle drei haben sich das gemerkt und jetzt der Versuchung widerstanden. Haben ihrer Parteichefin die kalte Schulter gezeigt. Danke, kein Interesse. Zu deutsch: „Sieh zu, wie du da alleine wieder rauskommst aus der Falle, die dir die SPD gebaut hat. Ich helfe dir nicht dabei.“

Im Laufe einer langen Karriere zieht ein Kanzler zwangsläufig eine Schleppe an Verprellten hinter sich her. Das ist der unvermeidliche Lauf der Dinge, und das bekommt auch Merkel jetzt zu spüren. Hinzu kommt aber, dass ihr sehr spezieller Politik- und Führungsstil erkennbar an ein Ende gekommen ist. Das „Wait and See“ funktioniert nicht mehr. Es hatte schon in der Griechenlandkrise nicht mehr funktioniert und sie zu einem atemberaubenden Wendemanöver in letzter Not geführt. Und es hat in der Flüchtlingspolitik nicht mehr funktioniert, als sie, wie sie inzwischen einräumt, lange wegsah und dann vor einem gutem Jahr hektisch und unüberlegt agierte.

Seehofer, Gabriel und Erdogan ausgeliefert

Seither hat CSU-Chef Horst Seehofer sie in der Hand. Von dessen Gnaden hängt ihre Politik ab. Er stach ihr kalt lächelnd das entscheidende Ass weg, den Grünen Winfried Kretschmann. Den hatte Merkel nach der erfolglosen Suche nach einem Bundespräsidenten sicher in der Hand zu haben geglaubt. Fortan spielte Seehofer diese Skatpartie mit Gabriel zusammen. Die beiden hatten Merkel in der Hand. Und gewannen.

Zum anderen ist sie in den Händen eines türkischen Präsidenten gefangen, der in seinem Land gerade die Demokratie schleift. Weil Merkels unausgesprochene Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik nur funktioniert, wenn Erdogan beim so genannten Türkei-Deal mitspielt. Das ist der tiefere Grund, weshalb Merkel einem angehenden US-Präsidenten Donald Trump die westlichen Grundwerte vor Augen hält, während Erdogan diese mit Füßen tritt – und das ohne große Kritik aus dem Kanzleramt.

Zenit der Macht überschritten

Zaudern, zögern, taktieren – und dann in der Not einen folgenreichen Fehler begehen, der sie in Abhängigkeiten bringt. Das ist die Kehrseite von Merkels über Jahre erfolgreicher Politik des Ungefähren. Sie ist an ein Ende gekommen. Merkel ist erpressbar geworden. National und international. Sie bestimmt das Spiel an vielen Stellen nicht mehr.

Darüber mag der Bundesparteitag Anfang Dezember in Essen versuchen hinwegzutäuschen, wenn sie unter Selbstverleugnung eines großen Teils des Saales wieder zur Parteichefin gewählt wird. Ähnliches haben wir in gespenstischer Weise vor einem Jahr in Karlsruhe erlebt. Die autosuggestive Kraft einer solchen Veranstaltung ist immer wieder faszinierend. Aber jenseits der Mauern des Kongresszentrums, jenseits des Konrad-Adenauer-Hauses, jenseits des Kanzleramtes tritt immer klarer zutage: Angela Merkel hat den Zenit ihrer Macht längst überschritten.  

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