Am Wahlkampfstand: SPD - „Haben Sie sich wenigstens rasiert heute?“

Im Bundestagswahlkampf hat die heiße Phase begonnen. Cicero wird sich in den kommenden Wochen an Wahlkampfständen verschiedener Parteien in Berlin umsehen. Den Auftakt der Serie macht der SPD-Direktkandidat und frühere Kulturstaatssekretär Tim Renner

Das Gratis-Eis ist vor allem bei Kindern beliebt. Die richtige Zielgruppe? / Foto: Lena Guntenhöner
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Lena Guntenhöner ist freie Journalistin in Berlin.

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Montagabend am Klausenerplatz in Berlin-Charlottenburg. Kinder spielen Fußball, eine Gruppe Männer Tischtennis. Da fährt ein seltsames Gefährt die Danckelmannstraße herauf. Es ist das Eiswagenfahrrad des SPD-Direktkandidaten für den Bezirk, Tim Renner. Der fährt selbst, eine Reihe von Mitarbeiterinnen in „Renner“-T-Shirts läuft nebenher. Der Rbb ist auch da, so ein Eiswagen-Wahlkampf ist schon ein Hingucker.

Es gehe dabei darum, den Leuten erstmal ein Lächeln aufs Gesichts zu zaubern, sagt Renner in die Kamera. Bei Kindern jedenfalls erfreut sich das Gratis-Eis schnell großer Beliebtheit. Ständige Frage: „Was haben Sie denn für Sorten?“ Antwort: „Vanille und Fior di Latte, das ist so ein Sahneeis.“ – „Kein Schoko?“ – „Nein.“ Und sie geben Tipps: „Sie müssen beim nächsten Mal Erdbeer mitbringen!“ Einer möchte wissen, ob es das jetzt jeden Tag gibt. Wählen darf er wohl erst in knapp zehn Jahren, aber die SPD findet er schon mal „gut“.

Zwei Jungs bieten sich diensteifrig an, für Renner, der inzwischen kreuz und quer über den Platz läuft und Menschen anspricht, Flyer zu verteilen. Ein anderer bittet um eine zweite Kugel, aber da ist die Mitarbeiterin eisern: „Eine für jeden, die anderen wollen auch was.“ Renner hastet wieder heran. Ein Junge nutzt die Gelegenheit und fragt: „Haben Sie schon mal Angela Merkel gesehen?“ – „Ja, und sie hat mich an meine Tante Ute erinnert, die sagt auch immer wenig, weiß aber alles besser.“

Eisbrecher funktioniert nicht immer

Schon ist er wieder weg, diesmal geht es zum Italiener auf der anderen Straßenseite. Sogar vor Fahrradfahrern macht er Halt. „Darf ich Ihnen einen Flyer mitgeben?“ Die sehen aus wie rote CD-Booklets in Anlehnung an seine Herkunft aus der Musikbranche.

Bei den Erwachsenen ist es allerdings schon schwerer, ins Gespräch zu kommen. Der Eisbrecher funktioniert nicht so („Danke, aber ich darf so was nicht essen“) und unbequeme Fragen muss sich Renner auch noch gefallen lassen: „Haben Sie sich denn wenigstens rasiert heute?“

Ein Klassiker: „Sie sehen auf den Bildern ja ganz anders aus.“ Immerhin entspannt sich danach ein Gespräch über die Belichtungstechnik des SPD-Fotografen und die Nachteile von Photoshop. Vieles andere bleibt an der Oberfläche.

Überzeugungsversuche und Wuttiraden

„Sagen Sie mal in drei Punkten, wofür Sie stehen!“, fordert eine Passantin den 52-jährigen Direktkandidaten auf. Renner sagt, er wolle die City West moderner machen, er kenne sich mit der Digitalen Agenda aus und auch die Situation von Selbstständigen im Kunstbereich liege ihm am Herzen. Wenig beeindruckt zieht die Frau von dannen.

Eine andere lässt gleich eine ganze Wuttirade auf ihn niederprasseln: „Die Politiker haben mich so enttäuscht. Die lügen die ganze Zeit, fahren dicke Autos. Und die Bürger können nicht mal die Miete bezahlen. Sie müssen die Löhne erhöhen. Und Sie müssen hart sein in der Politik.“ Renner lächelt nur gequält. Das war wohl doch anders gedacht mit dem Kamerateam und das Mikro hat er ja auch immer noch um. Er rät ihr schließlich, sie solle doch eine eigene Partei gründen.

Keine Zeit für politische Grundsatzdiskussionen

Doch schon steht der nächste schwierige Fall vor ihm. „Ich bin eigentlich ein klassischer SPD-Wähler“, sagt der und man ahnt, dass da noch ein „aber“ kommt. Tut es auch. „Aber die hat vergessen, dass sie eigentlich eine Arbeiterpartei ist und lässt sich die Themen von den Linken wegnehmen. Seit Schröder ist das so. Mein Vorschlag wäre, dass alle in die Rentenkasse einzahlen.“ Er sei seit 43 Jahren Krankenpfleger im Schichtdienst und gehöre schon zum Spitzensteuersatz, empört er sich. Doch seine Überstunden würden dadurch gleich wieder abgezogen. Seine Rente sei nur 300,- Euro höher als bei jemandem in Hartz IV. Auch die Krankenversicherung hält er für ein ganz wichtiges Thema. „Aber Schulz redet nur von Dieselfahrzeugen. Und wenn doch, kommen da nur halbherzige Vorschläge.“

Renner kommt gar nicht dazwischen. Als sein Gegenüber kurz Luft holt, antwortet er, „für die Bürgerversicherung bin ich auch. Und Schröder hatte damals keine andere Chance, weil das Land nach Kohl heruntergewirtschaftet war. Und genau wie Sie werfe ich meiner Partei vor, dass sie die Große Koalition damals eingegangen ist. Deshalb bin ich ja vor drei Jahren überhaupt in die SPD eingetreten.“ Mehr Zeit für politische Grundsatzdiskussionen hat er nicht. Denn da kommt endlich die Zielgruppe, auf die er es mit seinem Eiswagen wohl abgesehen hat: Erwachsene mit Kindern.

„Ich weiß aber nicht, ob ich versprechen kann, die SPD zu wählen. Gerade jetzt, wo die Grünen da noch mitmachen wollen“, sagt eine ältere Frau. „Na, zumindest die Erststimme muss drin sein“, scherzt Renner, nachdem die Enkel mit Eis versorgt wurden.

„Jetzt erst Recht“

Warum er von der Landes- überhaupt in die Bundespolitik wolle, will der Rbb-Reporter wissen. Der ehemaliger Berliner Staatssekretär für Kultur antwortet mit einem trotzigen „Jetzt erst Recht“. Außerdem habe sich in der Politik inzwischen vieles verändert, Trump sei US-Präsident geworden, da könne man doch nicht aufhören. Und Angst vor Herausforderungen habe er auch keine.

Seinen Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf gewann nach einer langen SPD-Phase 2013 der CDU-Direktkandidat Klaus-Dieter Gröhler. Renner kannte ihn nicht. „Ich musste googlen, gegen wen ich eigentlich antrete.“ Dabei ist Renner hier geboren und lebt nach einer Zwischenstation in Hamburg seit 2002 wieder in dem Viertel. Gegen SPD-Kontrahentin Ülker Radziwill konnte er sich bereits durchsetzen. Auf der Landesliste der SPD-Berlin steht er auf Platz 6 von 15.

Wieder unterbrechen Kinder das Interview: „Was ist der Unterschied zwischen SPD und CDU?“ Renner, selbst Vater von zwei Töchtern, überhört die Frage. Ein Mädchen schaut in den Eiswagen und möchte wissen: „Was gibt’s denn?“ – „Vanille und Fior di Latte.“ – „Fjördi – was?“

Fotos: Lena Guntenhöner, Kandidatenfoto Tim Renner: Martin Becker

 

 

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