Geleaktes Papier aus dem Bundesinnenministerium - „Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts sind nicht aussagekräftig“

Stephan Kohn, Referent im Innenministerium, wirft der Regierung vor, der Lockdown sei ein Fehlalarm gewesen. Die Kollateralschäden seien größer als der Nutzen. Der Mann wurde beurlaubt. Doch renommierte Wissenschaftler geben ihm in einigen Punkten Recht.

BMI-Referent Stephan Kohn ist inzwischen beurlaubt worden / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Matthias Schrappe ist emeritierter Professor für Innere Medizin. Von 2007 bis 2011 war er stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung im Gesundheitswesen. Zusammen mit anderen bekannten Wissenschaftlern hat er zwei Thesenpapiere veröffentlicht, in denen er den Kurs der Bundesregierung in der Coronakrise kritisiert und eine alternative Strategie zu ihrer Bewältigung vorstellt. 

Herr Schrappe, es gibt gerade viel Aufregung um das angeblich geleakte Papier eines Referenten im Bundesinnenministerium. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass der Lockdown ein Fehlalarm gewesen sei. Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts rechtfertigten keine Ausgangsbeschränkungen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Das ist ein politischer Vorgang. Aus wissenschaftlicher Sicht sind da aber zumindest jedoch einige wenige Fakten durchaus zutreffend. Wir haben in unseren Thesenpapieren vom 5. April und 3. Mai 2020 zunächst darauf hingewiesen, dass die Zahlenbasis zur Beurteilung der Frage, wie fortgeschritten die Corona-Pandemie ist, auf wackeligen Füßen steht. Das Robert-Koch-Institut berichtet täglich die Ergebnisse der Tests bei erkrankten Infizierten und deren Kontaktpersonen. Diese Zahlen sind aber nicht aussagekräftig.

Warum nicht?
Wenn man mehr getestet hätte, hätte man mehr gefunden. Wenn man weniger getestet hätte, hätte man weniger gefunden. Im Übrigen überschätzen anlassbezogene Tests die Häufigkeit, weil zum Beispiel symptomlose Infizierte nur ungenügend erfasst werden. Dies gilt auch für die Zahl der Sterbefälle: Sie wird vom RKI mit rund vier Prozent angegeben, während sie in einer repräsentativen Untersuchung deutlich unter einem Prozent liegen dürften. 

Es fehlt eine Bezugsgröße?
Genau, das Mindeste, was man hätte tun müssen, wäre, die Zahlen der Infizierten auf die Zahl der täglich durchgeführten Tests zu beziehen. Es ist doch ein Unterschied, ob man 100.000 Menschen pro Tag testet oder ob man die Neuerkrankungen auf eine Million Getesteter bezieht. 

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Sagen Sie.
Mit dieser Meinung stehen wir nicht allein da – wen man auch fragt, in diesem Punkt besteht Einigkeit zwischen den Wissenschaftlern und Fachexperten.   

Welche Folgen hat dieser Fehler?
Wenn Sie keine zuverlässigen Häufigkeitsdaten haben, können Sie die Maßnahmen zur Prävention nicht zuverlässig planen, und Sie können die Maßnahmen auch nicht vor der Bevölkerung glaubwürdig vertreten. Welche Folgen das haben kann, sehen wir jetzt in der Zunahme an Meinungen, die die Covid-19-Epidemie fahrlässig verharmlosen. Hier muss man sich auch deutlich von dem von Ihnen genannten Papier aus dem Innenministerium abgrenzen.

Die Bundesregierung wird von der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, beraten, die die höchstrangigen Wissenschaftler der Republik versammelt. Wenn sich in der Fachöffentlichkeit angeblich alle einig sind, wieso hat von denen niemand Alarm geschlagen?
Dazu müssten Sie sich an die betreffenden Institutionen wenden. Viele Papiere der letzten Zeit sind oberflächlich geblieben und haben im Kern keine unabhängige Position bezogen, so wie es für den wissenschaftlichen Diskurs notwendig wäre. Aus diesem Grund haben wir uns auch entschlossen, relativ schnell mit einem zweiten Thesenpapier herauszukommen, das zwar länger und komplizierter ist, aber tiefer in die Thematik einsteigt.

Ihr Thesenpapier überschneidet sich aber noch in anderen Punkten mit dem Papier des Bundesinnenministeriums.
Ja, auch die Darstellung der Infektionszahlen als kumulative Häufigkeit ist problematisch. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ich im Garten ein paar Millionen blaue Bälle habe und davon sind 3 Prozent durch einen Produktionsfehler rot, und ich ziehe jeden Tag eine blinde Stichprobe von 1.000 Bällen, dann habe ich am ersten Tag 30 rote Bälle, am zweiten 60 – und so weiter. Das ist also eine sich selbst erfüllende Vorhersage, dass ich die Kurve täglich zum Steigen bringe. In der Öffentlichkeit wird dies als unabänderliches Bedrohungsszenario wahrgenommen, was aber für eine erfolgreiche Risikokommunikation eine ganz schlechte Voraussetzung ist.

Was ist das Hauptversäumnis?
Das Robert-Koch-Institut hätte schon im März eine repräsentative Studie zur Ansteckungshäufigkeit und Entwicklung der Infektion machen müssen. Man hätte sich 20.000 zufällig ausgewählte und wissenschaftlich gematchte Bürger raussuchen müssen, um die über einen längeren Zeitraum wöchentlich zu untersuchen und zu befragen. Eine solche nationale Corona-Kohorte hätte zuverlässig gezeigt, wie sich die Epidemie in der Bevölkerung ausbreitet.

Matthias Schrappe / dpa 

Hat der Referent im BMI also Recht, wenn er die Versäumnisse des Robert-Koch-Instituts als „systemisches Versagen“ zusammenfasst?
Lassen Sie es mich aus fachlicher Sicht formulieren: Es hätte schon Anfang März anderer Instrumente bedurft. Neben der Corona-Kohorte hätte man schon zu diesem Zeitpunkt regionale Corona-Task-Forces einrichten müssen, denn bei einer Infektion mit einer so bedeutsamen Rolle der asymptomatischen Übertragung war es klar, dass es zu herdförmigen Ausbrüchen kommen wird. Dies ist dann auch in den Altersheimen in Würzburg, im Krankenhaus in Potsdam und jetzt in den Schlachthöfen so gekommen. Mit so einer Task Force hätte man hier sofort regieren können, und zwar nach Stunden. Die Task Force hätte genug Tests und Schutzkleidung dabei gehabt, und vor allen Dingen das Know How, das notwendig ist, um mit so einer Notsituation umzugehen.

Kohn folgert, dass der Kollateralschaden der Ausgangsbeschränkungen größer sei als der Nutzen. Es seien mehr Menschen durch verschobene Operationen oder durch Suizid gestorben als Leben durch Vorsichtsmaßnahmen gerettet. Ist das statistisch schon belegt?  
Ich kenne noch keine abschließenden Zahlen, die das zum heutigen Zeitpunkt schon belegen, aber die verfügbare Literatur aus anderen Zusammenhängen machen es wahrscheinlich, dass so genannte Kollateralschäden eine gewichtige Rolle spielen. Deswegen haben wir bereits Anfang April dringend darauf hingewiesen, dass auch andere wissenschaftliche Disziplinen als Experten mit herangezogen werden, denn das überschreitet die Kenntnisse von Virologen und Epidemiologen. Gerade ist eine Publikation über Kinder erschienen, die an einer eigentlich gut heilbaren Leukämie gestorben sind, weil sie wegen der Aufforderung, lieber zu Hause zu bleiben, zu spät ins Krankenhaus gekommen sind. Ich denke, hier wird noch viel aufzuarbeiten sein.

Apropos Sterblichkeit. Wie aussagekräftig sind die Zahlen der Corona-Toten? Das Robert-Koch-Institut hatte sich anfangs gegen Obduktionen ausgesprochen.
In der mir bekannten Fachwelt hat das niemand verstanden. Auf Obduktionen zu verzichten, widerspricht allen Standards wissenschaftlichen Vorgehens gerade bei einer neu eingetretenen Pandemie. Dann hätte man auch mehr Klarheit bezüglich der Sterblichkeit, nicht nur hinsichtlich der statistischen Darstellung, sondern auch hinsichtlich der Frage, ob die Corona-Infektion wirklich die wesentliche Todesursache war.

Auch die Notwendigkeit von Masken hat die Behörde erst bestritten. Inzwischen gibt es eine Maskenpflicht. Können die Bürger dem RKI noch vertrauen?
Ich will mir darüber kein Urteil anmaßen. Jede Behörde hat auch das Recht, sich zu korrigieren. Wir Autoren des Thesenpapiers wollen da nicht besserwisserisch auftreten. Dieser Tage ein Regierungsamt zu bekleiden, ist kein Zuckerschlecken.  

Aber welche Forderung verknüpfen Sie mit Ihrem Thesenpapier?
Wir haben eine Präventionsstrategie entwickelt, einen so genannten dritten Weg, der eine Alternative darstellt zum in Schweden praktizierten Modell der Herden-Immunität und der von der Bundesregierung angestrebten Abflachung der Infektionskurve. Die Abflachungsstrategie hat ja das Problem, dass man nie damit aufhören kann, so dass man jetzt dazu übergegangen ist, die Gesamtheit aller Infektionsketten durch die Gesundheitsämter rekonstruieren zu lassen. Diese Strategie ist in der Fachwelt höchst umstritten.

Weil die Gesundheitsämter personell unterbesetzt sind und ihre Daten zum Teil noch per Fax übertragen?
Nein, weil ein Virus mit asymptomatischer Übertragungscharakteristik sich immer einen Weg sucht. Selbst wenn Sie die Gesundheitsämter verhundertfachen würden, würde es nicht klappen, das Virus völlig zu eliminieren, es sei denn, Sie würden die gesamte Bevölkerung einmal in der Woche testen, jede Bewegung überwachen und die Grenzen schließen. Unser Vorschlag zur Prävention setzt daher darauf, die initiale Abflachung durch ein spezifisches Zielgruppen-orientiertes Konzept zu ergänzen, das auf einem möglichst optimalen Schutz der Risikogruppen basiert. Wir haben einen Risiko-Score entwickelt, der neben dem Alter die Zahl der Vorerkrankungen, den Kontakt mit Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen und die Zugehörigkeit zu einem Herdgeschehen berücksichtigt.

Wollen Sie Risikogruppen wegsperren?
Nein, wir wollen sie schützen. In Deutschland wird immer gleich an das Wegsperren gedacht, aber wir brauchen eine Sorge und Unterstützung. Natürlich sollten die Personengruppen mit dem höchsten Risiko die Öffentlichkeit so gut es geht meiden. Aber man könnte sie dabei unterstützen, indem man ihren Enkelkindern die Tests bezahlt, damit sie sie besuchen können – oder indem man ihnen in der Öffentlichkeit einen Zeitslot reserviert. Warum geben wir gegenüber den Risikogruppen nicht das Versprechen ab, dass sie als erstes von der Impfung profitieren?

Das Robert-Koch-Institut hat bisher nicht auf die Kritik an seiner Arbeit reagiert. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Politik Ihren Vorschlag jetzt umsetzt?
Wir haben das Papier nicht geschrieben, weil wir hoffen, dass der Gesundheitsminister gleich am nächsten Tag anruft. Wir haben es geschrieben, weil wir gesehen haben, dass eine Blockade eingetreten ist.

Weil die Opposition im Bundestag keinen Druck macht?
Mein Vorwurf geht nicht nur an die Opposition, sondern auch an die Medien. Unter dem Schock dieser Epidemie hat sich der Diskurs verengt. Alle dachten nur noch an die Zahlen und daran, dass man diese Krise übersteht. Aber kaum einer hat daran gedacht, dass die Stärke unserer Gesellschaft in der Vielfalt liegt und dass man vielleicht noch besser darüber hinwegkommt, wenn man offen diskutiert und auch Meinungen zulässt, die den Kurs der Regierung in Frage stellen – um daraus zu lernen. Demokratie lebt doch vom Streit.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung stand, Stephan Kohn sei Referatsleiter im Bundesinnenministerium.Tatsachlich aber ist er Referent im Rang eines Oberregierungsrates. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen. 

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