30 Jahre Mauerfall - „Schlangestehen verrät nicht Mangel, sondern Sehnsucht nach Qualität“

Erst der Mauerfall vor 30 Jahren hat vielen Westdeutschen die Augen für die Lebensverhältnisse in der DDR geöffnet. Schuld waren westdeutsche Medien, die den Arbeiter- und Bauernstaat als Schrebergarten-Idyll verklärten. Eine Reportage aus der renommierten „Zeit“ liest sich heute wie Satire

Drüben war es auch ganz schön: Eine DDR-freundliche Berichterstattung im Westen schönte die Mangelwirtschaft/ picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Vor 30 Jahren fiel die Mauer; ein Jahr später kam es zur Wiedervereinigung. Für die Ostdeutschen bedeutete dies plötzlich Freiheit und die Hoffnung auf Wohlstand, es erforderte aber auch eine enorme Anpassungsleistung an die neuen Bedingungen. Die meisten Westdeutschen staunten, als sie plötzlich mehr über den real existierenden Sozialismus erfuhren – über den niedrigen Lebensstandard, die desolate Infrastruktur, die Umweltbelastungen und nicht zuletzt über Unfreiheit und Unterdrückung im Zeichen des Sozialismus.

Was hinter Mauer und Stacheldraht vor sich ging, interessierte Ende der 1980er-Jahre im Westen immer weniger Menschen. Dazu trugen auch die meisten westdeutschen Medien bei, die die DDR als eine Art sozialistische Schrebergarten-Idylle darstellten – nicht ganz so modern wie die Bundesrepublik, dafür aber mit mehr menschlicher Wärme. 

Korrektur des DDR-Bildes

Zu den Zeitungen, die die DDR in einem positiven Licht darstellten, gehörte Die Zeit. Vor allem ihr damaliger Chefredakteur Theo Sommer focht publizistisch dafür, sich mit der Teilung abzufinden, zumal es den Menschen in der DDR viel besser gehe, als die „kalten Krieger“ in Bonn es darstellten. 1986 reiste Sommer mit fünf weiteren Zeit-Redakteuren kreuz  und quer durch die DDR, bestens betreut von der Presseabteilung des Ostberliner Außenministeriums. Das Ergebnis der Reise waren eine Artikelserie sowie ein Buch – inhaltlich ganz im Sinne der DDR. Die Hauptabteilung Presse im DDR-Außenministerium jedenfalls war voll des Lobes: Die Zeitung habe „die großartige Entwicklung der DDR“ hervorgehoben und dazu beigetragen, „das Bild der DDR im Bewusstsein der Menschen in der DDR weiter zu unseren Gunsten zu verändern, antikommunistische Vorurteile abzubauen und der ‚Bedrohungslüge‘ entgegenzuwirken.“ Die DDR-Propagandisten lobten die Zeit-Serie deshalb als „die bisher umfassendste Korrektur des DDR-Bildes durch ein großbürgerliches Massenmedium in der Bundesrepublik.“ 

In der DDR-Führung konnte man mit der Arbeit der Zeit in der Tat sehr zufrieden sein. Vor allem Sommers teilweise schwärmerische Beschreibung der DDR muss bei den Genossen geradezu Glückgefühle ausgelöst haben. Wer Sommers Elogen heute nochmals liest und sie nicht für Satire hält, muss sich schon fragen, ob die Zeit-Redakteure tatsächlich in jenem Land waren, dessen Bürger nur drei Jahre später in Scharen flohen, weil sie die Kombination aus fehlender Freiheit und niedrigem Lebensstandard nicht länger ertragen wollten. 

Verlautbarungen der SED 

Manche Passagen aus der Zeit-Reportage lesen sich heute fast wie amtliche Verlautbarungen des SED-Regimes. Vor allem Sommers Elogen auf die DDR-Nomenklatura, „deren Führung Gelassenheit gelernt und Selbstbewusstsein entwickelt hat“, würden heute wohl nicht einmal mehr jüngere Funktionäre der „Die Linken“ unterschreiben. Aber sie belegen die krampfhaften Versuche linksliberaler Kreise, die Forderungen nach einer Wiedervereinigung durch eine Idealisierung des „anderen Deutschland“ für obsolet zu erklären. 

Theo Sommer zum Warenangebot in der DDR:

„Heutzutage gibt es ziemlich alles in der DDR, wenngleich nicht nimmer und nicht überall – oder nur als „Bückware“, die unter dem Ladentisch hervorgeholt wird. Da hat jeder seine Beziehungen, ob es nun um Wasserhähne geht, die ein Kneipenbesucher feilbietet, oder um frischen Spargel, den der Lastwagenfahrer für seine Freunde abzweigt.“

„Oft genug, wenn man Menschen vor Geschäften Schlangestehen sieht, verrät dies nicht grundsätzlichen Mangel, sondern Sehnsucht nach Qualität. Die Leute stehen beim Privatbäcker an (…), beim HO-Bäcker eine Ecke weiter drängelt niemand.“

Theo Sommer über Mode und Wohnungsbau:

„So verlangt denn die Parteitags-Direktive zum neuen Fünfjahresplan bessere Ausstattung, modernen Wohnkomfort, hochmodische Sortimente. (…) Die Menschen hören’s gern und warten ab, was daraus wird. Sogar ganz wohlgemut; auf anderen Gebieten haben sie ja erlebt, dass die Partei ihre Versprechen einlöst. Das gilt zumal für den Wohnungsbau.“

„Der Wohnungsbau ist Erich Honeckers ureigenes Anliegen. (…) Bis 1990 will er das Wohnungsproblem „gelöst“ haben. (…) Die Bürger sehen, dass es vorangeht.“

Theo Sommer über DDR-Manager:

„Die neue Führungselite ist eine Leistungselite von Fachleuten. Sie qualifiziert sich ständig weiter wie alle anderen DDR-Bürger; die DDR ist ein einziges, riesiges Fortbildungsinstitut. Ihre Angehörigen unterscheiden sich von westdeutschen Politikern und Spitzenbeamten vor allem dadurch, dass sie viel mehr wie Technokraten reden. Jeder Parteisekretär ein Wohnungsbauexperte, jeder Ratsvorsitzende ein Rationalisierungsfachmann.“

Theo Sommer über den betreuenden Staat:

„Sie (die Menschen) glauben an das, was sie sehen: die Aufbauleistung ringsum, ihren verbesserten Lebensstandard, die Geborgenheit auch, die ihnen ihr Staat bei allen Kümmerlichkeiten und Kümmernissen bietet, die menschliche Wärme.“

„Die Menschen in der DDR haben, was manche, die in die Bundesrepublik ausreisen, bald schon bitterlich vermissen: Sicherheit. Viel Gängelung, Planung, Fremdbestimmung bis tief hinein in den Lebensentwurf des Einzelnen – aber eben auch Zuwendung, Fürsorge, eine Biografie ohne Knick, solange sie nicht aufmüpfig werden.“

Theo Sommer über Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der DDR:

„Und es ist drüben ja in der Tat ein soziales System entstanden, das unseres in mancher Hinsicht in den Schatten stellt. Arbeitslosigkeit gibt es nirgends.“

„Die Renten sind niedrig, mindestens 300 Mark, im Schnitt 500 Mark, doch Zweifel, ob sie auch sicher sind, gibt es nicht.“

„Niedrig sind auch die Mieten.“ 

„Die Preise für Grundnahrungsmittel (…) sind seit über einem Vierteljahrhundert nicht erhöht worden; das einfache Brötchen kostet immer noch fünf Pfennig.“ 

„Wenn ein Arbeiter bei Carl Zeiss Jena im Monat 900 Mark nach Hause bringt (Spitzenverdienst: über 2000 Mark), so ist das erheblich mehr als in der Bundesrepublik.“

Theo Sommer über Erich Honecker:

„Leben in der DDR – das heißt Leben in der Knautschzone. Es heißt auch: Leben unter Erich Honecker. Die Bürger des anderen deutschen Staates bringen ihm fast so etwas wie stille Verehrung entgegen; in vielen Gebieten schlägt sie immer wieder durch.“

„Drüben hat sich ein zweites deutsches Wunder vollzogen – ein gedämpftes, gebremstes Wunder, aber dennoch. Und für die siebzehn Millionen Deutschen in der DDR liegt Hoffnung in Honeckers Wort: „Das Erreichte ist noch lange nicht das Erreichbare“.“ 

Versuchslabor für Sozialismus 

Bei aller Schwärmerei über das von ihm entdeckte „wahre“ Leben in der DDR kommt Sommer in seinem Schlussartikel doch zu dem Ergebnis, dass er dieses Paradies nicht als neue Heimat haben möchte: „Nein, keiner von uns möchte in der DDR leben.“ Auch damit stand der „Zeit“-Chefredakteur in der westdeutschen Medienlandschaft nicht allein. Er und all die  anderen DDR-Schönschreiber wollten ihren bundesrepublikanischen Wohlstand ebenso wenig aufgeben wie ihre Freiheiten. Aber ein sozialistisches Groß-Experiment am lebenden Menschen hinter Mauer und Stacheldraht fanden sie doch ganz interessant. 

Hätten Publizisten wie Sommer oder Politiker wie Oskar Lafontaine 1989 das Sagen gehabt, gäbe es wohl noch immer eine eigenständige DDR. Sie wäre ein mit West-Milliarden finanziertes Versuchslabor für einen Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“. Auch das gehört zur Geschichte der Wiedervereinigung und sollte beim Blick zurück auf 1989 nicht vergessen werden. 

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