30 Jahre Hauptstadt-Entscheidung - „Mein Freund konnte die Tränen nicht zurückhalten“ 

An diesem Sonntag vor 30 Jahren fiel im Bundestag die Entscheidung zugunsten einer Hauptstadt Berlin. Unser Autor war der letzte Redner in der hochemotional geführten Debatte. Er erinnert sich an Drohbriefe, Wolfgang Schäuble als treibende Kraft – und an einen weinenden Hermann Scheer.

Bundeskanzler Helmut Kohl und Parteifreunde warten am 20. Juni 1991 im Bonner Bundestag auf das Ergebnis der ersten Abstimmung über die künftige Hauptstadt Deutschlands / dpa
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Autoreninfo

Hans Wallow ist ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD.

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Heute auf den Tag vor 30 Jahren fiel die Entscheidung über die Hauptstadtfrage Bonn oder Berlin. Als letzter Redner war ich an der neunstündigen und teilweise sehr turbulent geführten Debatte als „Bonn-Kämpfer“ beteiligt. Der Fraktionszwang war aufgehoben; nur die PDS-Abgeordneten stimmten bis auf den Düsseldorfer Ulrich Briefs geschlossen für Berlin.

Durch die beiden damals noch großen Volksparteien ging ein tiefer Riss, den Willy Brandt vertieft hatte, indem er das französische Vichy-Regime während der deutschen Besetzung mit Bonn verglich.

Die Berlin-Fraktion war, da sie sich im Nachteil sah, deutlich aggressiver. Die Medien waren mehrheitlich für Berlin und ergingen sich teilweise in arger Bonn-Häme, wobei „Bundesdorf“ oder „Krähwinkel“ noch milde Bezeichnungen waren. Beinahe eine Liebeserklärung für Bonn hatte hingegen der Berliner Richard von Weizsäcker schon 1984 formuliert: „Bonn ist eine sehr europäische Stadt. Was ihr an Ausdehnung fehlen mag, macht sie durch andere Vorzüge wett: ihre Menschlichkeit, ihren Charme, kurzum ihre friedliche und gewinnende Atmosphäre.“

Drohbriefe im Wahlkampf

Schon im Wahlkampf erhielt ich Drohbriefe. In einer Karte mit offener Adresse hieß es: „Die Schweine von heute sind die Schinken von morgen.“ In einem Livegespräch bei Sat1 im Berliner Verkehrsmuseum schrie mich der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, die Fäuste geballt, aufgebracht an: „Bonn, das ist Verrat an der Einheit!“ 

In der Berlin-Fraktion dominierte eindeutig der Abgeordnete Wolfgang Schäuble. Laut Protokoll sagte er: „Für mich ist es, bei allem Respekt, nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin. Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig, aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands. Das ist die entscheidende Frage.“ Nach meiner Beobachtung war er es wohl, der die unentschiedenen Abgeordneten aus den neuen Ländern, die schlechte Erfahrungen mit der SED-Diktatur gemacht hatte, ins Berlin-Lager zog.

Wolfgang Schäuble plus PDS haben die knappe Entscheidung für Berlin herbeigeführt. Die Sieger jubelten frenetisch. Bestürzung herrschte hingegen bei den bereits siegessicheren Verlieren. Mein Freund und Kollege Hermann Scheer konnte die Tränen nicht zurückhalten. Er meinte: „Schon wieder haben die Demokraten verloren.“ 

Welches Haupt für welche Glieder?

In der Debatte schimmerte durch, dass die Mehrheit in der Bonn-Fraktion ein anderes Staatsverständnis hatte als die Vertreter der Berlin-Fraktion. Es ging nicht nur um die historische und damit politische Belastung der Stadt an der Spree, sondern auch um die Frage, ob man überhaupt ein Haupt benötigte, das die Glieder lenkte. Wir wollten keinen starken Zentralstaat in einem föderativen System. Bonn hatte bereits Bedeutendes hervorgebracht: Ein hervorragendes Grundgesetz, die Westbindung, die soziale Marktwirtschaft, die Entspannungspolitik und den Kampf gegen Bedrohungen im Inneren durch die Rote Armee Fraktion oder von außen durch den Warschauer Pakt im Kalten Krieg. 

Das Bonn-Berlin-Gesetz, an dem ich mitgearbeitet habe, wurde dann im Konsens geschlossen. Die Hälfte der Ministerien sollte in Bonn bleiben, mithin die Mehrheit der Mitarbeiter. Die Bundesregierung in Berlin hebelte das Gesetz aber aus; die Minister erschienen einfach nicht in ihren Bonner Ministerien. Ein Drittel der Belegschaften wurden nach Berlin abgezogen. In der Folge zogen auch fast alle Journalisten und Redaktionen ab. Proteste aus Bonn blieben aus. Der damalige Chefredakteur des Bonner General-Anzeigers Helmut Herles machte dafür ein „behäbig-schläfriges Selbstverständnis“ des Bonners Stadtrats verantwortlich.

Keine jammerige Nostalgie

Das Bewusstsein einer großen Geschichte zu pflegen, ist keine jammerige Nostalgie, sondern gehört zu der demokratischen Tradition der Geburtsstadt der Zweiten Republik. Ein Spiegel-Kollege kritisierte die Geschichtsvergessenheit in Berlin. Das gilt auch für Bonn. Als Bundesstadt hat Bonn Rechte und Pflichten für die ganze Bundesrepublik. Bonn muss ein Ort des kollektiven Gedächtnisses sein und die kulturellen, historischen Gemeinsamkeiten unserer Gesellschaft pflegen, ohne jemanden auszugrenzen. Daraus entwickeln sich lebensgestaltende Werte, die Identifikation und Solidarität ermöglichen.

Eine Perspektive für die Zukunft Deutschlands blieb die regierende Berliner Elite dem Land allerdings schuldig. Es herrscht heute der hektische Stillstand. Für eine exportabhängige Nation ist das bedrohlich.

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