10 Jahre Cicero-Urteil - „Ich würde es wieder tun“

Heute vor zehn Jahren entschied das Bundesverfassungsgericht: Die Durchsuchung beim „Cicero“-Magazin im Jahr 2005 wegen möglichen Verrats von Dienstgeheimnissen war nicht rechtmäßig. 2015 sprachen die damaligen Gegenspieler Otto Schily und Wolfram Weimer anlässlich des zehnten Jahrtestags der Durchsuchung noch einmal darüber

Am 27. Februar 2007 urteilte das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Pressefreiheit / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Herr Schily, vor zehn Jahren, am 12. September 2005, begann die Cicero-Affäre mit einer Razzia in den Redaktionsräumen. Musste das sein?
Otto Schily: Es gab dazu einen Gerichtsbeschluss. Der Antrag der Staatsanwaltschaft war nach Auffassung des Gerichts gut begründet. Insofern ist da nachträglich nichts zu beanstanden.

Wolfram Weimer: In diesem Fall gibt es vieles zu beanstanden. Aber lassen Sie mich vorab in zwei Sätzen unser Verhältnis kurz umreißen. Herr Schily, ich habe Sie über viele Jahre als Politiker sehr geschätzt, als einen Menschen, der autonomes Denken in der Politik verkörpert. Was leider bei vielen Vertretern der politischen Klasse nicht so üblich ist …

Schily: … dieses Kompliment ist gefährlich, denn jetzt kommt die Attacke.

Weimer: ... ich achte Ihre politische Lebensleistung sehr. Aber mich wundert, dass Sie im Abstand von jetzt zehn Jahren nicht sagen können: „Leute, bei Lichte betrachtet, ich hab mich damals vergaloppiert. Das war ein Fehler. Nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht dies so gesehen hat und die Öffentlichkeit dies so sieht, sondern auch deshalb, weil ich mich selber kritisch hinterfragt habe.“

Schily: Aus meiner Sicht der Dinge hätten diejenigen, die mich kritisiert haben, Anlass, in sich zu gehen und sich mit dem Sachverhalt vertraut zu machen. Man kann sich nach zehn Jahren auch noch bei mir entschuldigen.

Das müssen Sie uns erklären.
Schily: Wer sich einigermaßen auskennt in der Gesetzgebung, weiß, dass ein Minister, wenn er die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt, nicht prüft: Ist das Ermittlungsverfahren begründet? Er prüft noch nicht einmal: Ist der Verdacht begründet? Das ist gar nicht seine Aufgabe. Der Minister prüft nur, ob die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Rückwirkungen auf Interessen des Staates haben könnte, vor allem wegen der Gefahr der Offenlegung von vertraulichen Angelegenheiten. Deshalb sage ich ganz bewusst: Ich würde es genauso wieder tun.

Weimer: Sie argumentieren jetzt formalistisch. Dabei haben Sie das Verfahren natürlich politisch initiiert …

Schily: Nein. Sie irren sich. Es tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss. Mich verantwortlich zu machen für die späteren Strafverfolgungsmaßnahmen, die dann von einem Gericht veranlasst wurden, ist unsinnig.

Weimer: Sie hätten ja einfach die Ermächtigung nicht erteilen können. Also gab es eine politische Entscheidung.

Schily: Nein, das ist falsch.

Weimer: Dann war es eine persönliche Entscheidung.

Schily: Nein, es war auch keine persönliche Entscheidung. Es gab eine Entscheidung, die sachgebunden war, die sich daran orientiert hat, ob das Ermittlungsverfahren eine Gefahr für den Vertraulichkeitsbereich des Staates darstellt.

Weimer: Aber Sie hätten doch genauso anders abwägen können.

Schily: Was gibt es da abzuwägen? Ich habe nur diesen engen Prüfungsrahmen. Rechtsstaat ist Verfahren. Da sind die Zuständigkeiten klar zugeordnet. Ein Innenminister, der auf das Ermittlungsverfahren Einfluss nimmt, der darauf Einfluss nimmt, ob ein Gericht einen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss erlässt, überschreitet seine Befugnisse.

Weimer: Deswegen haben Sie diesen Fall vor dem Bundesverfassungsgericht dann ja auch granatenmäßig verloren.

Schily: Nein, ich habe nicht verloren. Ich war gar nicht Beteiligter in dem Verfahren.

Das Bundesverfassungsgerichtsurteil haben wir alle drei gelesen …
Schily: In dem Urteil wird, wenn Sie richtig nachlesen, die Einleitung des Ermittlungsverfahrens überhaupt nicht kritisiert.

Die Richter sagen, die Durchsuchung war verfassungswidrig.
Schily: Ich habe die Durchsuchung doch nicht angeordnet, sondern ein Gericht. In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht schlicht drin, dass ich die Ermächtigung zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erteilt habe. Es steht auch drin, die Einleitung des Ermittlungsverfahrens war nicht zu beanstanden.

Weimer: Politisch waren Sie dafür verantwortlich. Sie waren quasi der Initiator der Affäre.

Schily: Entschuldigen Sie. Ich war nicht der Initiator.

Aber das Gericht sagt, ein solcher Eingriff in die Pressefreiheit ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Was gibt es daran zu deuten?
 

Otto Schily in seinem Büro / Antje Berghäuser

Schily: Nirgendwo steht in dem Urteil, meine Entscheidung wäre nicht richtig gewesen. Unabhängig davon halte ich das Bundesverfassungsgerichtsurteil aber auch für falsch. Das fängt schon mit dem zweiten Leitsatz des Urteils an. Da steht nämlich, „die bloße Veröffentlichung eines Dienstgeheimnisses im Sinne des § 353b StGB [Verletzung von Dienstgeheimnissen] durch einen Journalisten reicht im Hinblick auf Art. 5, Absatz 1, Satz 2 GG [Pressefreiheit] nicht aus, um einen den strafprozessualen Ermächtigungen zur Durchsuchung und Beschlagnahme genügenden Verdacht der Beihilfe des Journalisten zum Geheimnisverrat zu begründen.“ Wissen Sie, was der Denkfehler in diesem Leitsatz ist? Da wird eine Tatsachenfrage, nämlich ob ein Verdacht besteht, mit einer Rechtsfrage vermischt. Das dürfte eigentlich einem Verfassungsrichter nicht unterlaufen.

Weimer: Es klingt in meinen Ohren schon ziemlich stur, vielleicht sogar ein bisschen arrogant, zu sagen, das Urteil des Verfassungsgerichts akzeptiere ich nicht.

Schily: Ich könnte auch sagen: Sie sind arrogant und nicht in der Lage, auf Argumente zu hören.

Weimer: Kann es sein, dass Sie sich vor allem darüber geärgert haben, dass ein Dokument aus Ihrem Ministerium oder einer nachgelagerten Behörde in die Hände eines Journalisten gelangt ist?

Schily: Das ist keine Frage des Ärgers.

Weimer: Das kann ich verstehen. Sie hatten als Innenminister die ministerielle Verantwortung, das zu unterbinden. Kann ich auch verstehen. Aber Sie können doch nicht, wenn es Lecks in Ihrem Apparat gibt, um diese ausfindig zu machen, den Umweg gehen, Durchsuchungen in Redaktionen herbeizuführen. Das war der Vorgang.

Schily: Nein, nein, ich habe keine Durchsuchung angeordnet, sondern ein Gericht, passen Sie auf …

Weimer: … und dieser Vorgang ist deshalb politisch unerträglich, weil er eine Mechanik in Gang setzt, die die Pressefreiheit tangiert, die den Informantenschutz unmöglich macht.

Schily: Ich sage es noch einmal. Ich bin ein großer Anhänger der Pressefreiheit. Das klingt jetzt vielleicht in Ihren Ohren ein bisschen merkwürdig. Aber ich bin gleichzeitig der Meinung, der Staat hat ein Anrecht darauf, dass seine Geheimnisschutz-Vorschriften eingehalten werden.

Weimer: Das sehe ich übrigens genauso.

Schily: Gut. Da sind wir uns ja schon mal in einem Punkt einig. Das Ermittlungsverfahren diente der Aufklärung der Frage: Wer hat diesen Geheimnisschutz gebrochen? Ich habe nur zu verantworten, dass ich das zugelassen habe. Wobei, wie gesagt, die Einleitung des Ermittlungsverfahrens an sich ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, nicht meine.

Weimer: Das klingt doch so, als wenn Sie sagen würden, „ich habe nur einen kleinen Schneeball losgetreten“. Aber Sie wussten doch, dass da eine Lawine losrollt.

Schily: Nein, meine Entscheidung beschränkte sich darauf, ob ein Ermittlungsverfahren durchgeführt werden darf, ich hatte keinen Einfluss darauf, wie das Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde.

Da muss ich an dieser Stelle fairerweise anführen, dass Herr Schily damals im Innenausschuss des Bundestags eingeräumt hatte, dass die Ermächtigung wohl auf die Durchsuchung im eigenen Haus, also sprich das Bundeskriminalamt, hätte beschränkt werden können.
Schily: Na, sehen Sie.

Weimer: Immerhin.

Schily: So weit, so gut. Jetzt betrachten wir mal beide Seiten. Sie haben Ihren Geheimnisbereich, der Staat hat seinen Schutzbereich. Was würden Sie denn sagen, wenn jemand in krimineller Weise, nehmen wir mal an, in Ihrer Redaktionskonferenz mithört mit so einem Stick, und dieser Stick wird bei Ihnen entwendet. Und dieser Stick findet seinen Weg zu einem anderen Presseorgan, welches Ihnen nicht wohlgesonnen ist. Ein solcher Diebstahl würde Ihnen nicht gefallen.

Genau das, was Sie gerade theoretisch beschreiben, ist übrigens bei der taz passiert.
Schily: Derjenige, der den Stick klaut, ist ein Straftäter, schlicht ein Dieb. Hat ein Dieb Schutz verdient? Nein, hat er nicht.

Aber derjenige, der die Information bekommen hat, hat Schutz verdient.
Weimer:
Das ist genau der Unterschied.

Schily: Aber das Bundesverfassungsgericht schützt das Vertrauensverhältnis zwischen der Presse und einem Straftäter. Das halte ich für hochproblematisch.

Weimer: Aber Herr Schily, das ist doch ein integraler Bestandteil unserer Pressefreiheit.

Schily: Die Zusammenarbeit von Journalisten mit Straftätern ist integraler Bestandteil der Pressefreiheit? Da bin ich aber sehr erstaunt.

Weimer: Journalisten dürfen nicht belangt werden, wenn sie Informationen zugespielt bekommen, die möglicherweise auch heikle Quellen beinhalten.

Schily: Selbst dann, wenn die Information selbst eine Straftat ist?

Weimer: Die Information selbst kann gar keine Straftat sein.

Schily: Doch, das ist in diesem Fall so.

Weimer: Nein. Die Information selbst ist erst einmal nur eine Information.

Schily: Nein. Laut Paragraf 353b Strafgesetzbuch, der die Verletzung von Dienstgeheimnissen unter Strafe stellt, ist die Information eine Straftat.

Wolfram Weimer / Antje Berghäuser

Weimer: Das Wesen der Pressefreiheit besteht doch darin, dass Journalisten die Macht kontrollieren. Und die Macht können sie nur kontrollieren, wenn sie gelegentlich unangenehme Informationen aus den Sphären der Macht erhalten. Häufig kommen diese Informationen aus Quellen, die Sie vielleicht als dubios beschreiben würden. Ich kann verstehen, dass die Strafverfolgungsbehörden die undichte Stelle suchen. Aber wenn sie gegen Journalisten vorgehen, unterhöhlen sie die Pressefreiheit an einer ganz zentralen Stelle. Und wenn wir sehen, wie die NSA und andere Geheimdienste in einem ausufernden Sicherheitsstaat Gesetze übertreten und flächendeckend die Bevölkerung überwachen, dann ist es gut, dass es Menschen gibt, die sagen: „Das geht zu weit und ich muss das an die Öffentlichkeit bringen.“

Schily: Da gebe ich Ihnen recht, es gibt Fälle, in denen wirklich ein Skandal aufgedeckt wird, zum Beispiel eine Korruptionsaffäre im BKA oder Rechtsbrüche beim Verfassungsschutz. Da wäre ich der Letzte, der dagegen irgendetwas sagen würde. Aber jetzt frage ich Sie im konkreten Fall: Was war denn in der Cicero-Affäre der Missstand, der zu enthüllen war? Den gab es nicht. Was dieser Journalist in dem Cicero-Artikel gemacht hat, war ziemlich verantwortungslos. In dem Artikel standen sogar Telefonnummern. Damit wurden Ermittlungen gefährdet. Damit hat man die Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten beeinträchtigt. Was ist denn daran interessant für die Öffentlichkeit?

Weimer: An den Telefonnummern war gar nichts informationswürdig. Da gebe ich Ihnen recht. Aber die ganze Geschichte war natürlich hochbrisant. Einer der gefährlichsten Terroristen der Welt plant einen Chemiewaffenanschlag. Dahinter steht der Iran. Und die Bundesregierung will nicht, dass das an die Öffentlichkeit kommt. Da stellen sich eine Menge Fragen.

Schily: Welche Fragen stellen sich denn da?

Weimer: Es stellt sich zum Beispiel die Frage: Welche politischen Motive stecken dahinter?

Schily: Das müssen Sie schon dem Staat überlassen, wann er es für richtig hält, solche Informationen zu veröffentlichen …

Weimer: Nein.

Schily: Doch. Es muss möglich sein, dass in den Sicherheitsbehörden und in Vertrauensgremien des Staates Dinge besprochen werden, die nicht an die Öffentlichkeit durchgestochen werden. Selbst der Bundessicherheitsrat ist nicht mehr dicht. Wie soll der Staat da seine Aufgaben wahrnehmen?

Weimer: Sie beklagen ein schwindendes Verantwortungsethos in den Apparaten. Das kann ich verstehen. Aber Sie dürfen in einer solchen Situation nicht sagen: Na gut, dann greifen wir halt mal in die Pressefreiheit ein und schaffen eine Atmosphäre der Einschüchterung. Damit diejenigen, die mit der Presse reden, wissen, da droht ihnen Strafverfolgung. Das zeigt sich jetzt wieder bei den Ermittlungen gegen den Blog netzpolitik.org. Offenbar wird in unseren Diensten eine Superüberwachung von sozialen Medien aufgebaut. Selbst wenn es dafür möglicherweise gute Argumente gibt, ist dies für die Öffentlichkeit, insbesondere für die Internetszene, eine hochwichtige Information.

Schily: Da sind wir wieder an einem Punkt, da geht es doch nur um die Skandalisierung der Geheimdienstarbeit.

Weimer: Was heißt hier Skandalisierung? Sie können doch nicht sagen, die Veröffentlichung dieser Informationen sei verantwortungslos, es gebe kein öffentliches Interesse. Nicht nach dem, was wir mit der NSA erlebt haben.

Schily: Hier geht es doch um die Überwachung von terroristischen Aktivitäten.

Weimer: Nein, der NSA-Skandal hat gezeigt, es geht um die flächendeckende Überwachung des Internets.

Schily: Aber der Staat und die Journalisten müssen sich verständigen, wo ist die Grenze. Sie werden doch zugeben, dass es im individuellen Fall geboten und gerechtfertigt sein kann, eine bestimmte Person zu überwachen. Das können Sie doch nicht einfach öffentlich machen. Dann können Sie die Überwachung ja völlig vergessen, und wer übernimmt dann die Verantwortung, wenn es zu einem Anschlag kommt? Wir müssen einen Modus Vivendi finden. Vielleicht waren in Ihrem Fall die Durchsuchung und die Beschlagnahme nicht verhältnismäßig. Aber das Ermittlungsverfahren als solches, das war völlig in Ordnung.

Weimer: Wir können uns jetzt abstrakte, fiktive Konstellationen überlegen, aber das hilft nicht weiter. Die Cicero-Affäre war ein konkreter Fall, und wir haben jetzt mit netzpolitik.org wieder einen konkreten Fall. In beiden Fällen ist der Staat über die Grenzen hinausgeschossen. Nun diskutiert die Gesellschaft wieder, was ist richtig und was ist falsch, und insofern wurde nicht nur durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch durch die öffentliche Debatte eine Grenze definiert. Das ist für mich im besten Sinne politische Kultur.

Hat nicht vor allem auch die NSA-Affäre gezeigt, dass der Staat auch seine dunklen Seiten haben kann und dass es gut ist, wenn es eine freie Presse gibt? Und dass es Mitarbeiter gibt, die Missstände auch unter Bruch ihrer Geheimnisverpflichtung anprangern?

Schily: Da brauchen wir uns gar nicht in irgendeinen Widerspruch zu verwickeln. Edward Snowden hat sicher dazu beigetragen, eine Diskussion anzustoßen. Ob er den richtigen Weg dazu gewählt hat, darüber könnte man natürlich diskutieren. Aber dass es manchmal sinnvoll sein kann, unter Durchbrechung der bestehenden Vorschriften Missstände in der Behörde aufzudecken, da bin ich bei Ihnen.

Weimer: Juristisch haben wir es mit einer ähnlichen Konstellation zu tun. Snowden hat das Recht gebrochen.

Schily: Aber der Staat muss sich wappnen. Ich habe ja, wie Sie wissen, 2001 nach den Anschlägen in New York ein Gesetzespaket erarbeitet. Da mussten unsere Sicherheitsbehörden aufrüsten. Der Schutz vor Terrorismus und organisierter Kriminalität ist die Voraussetzung dafür, dass wir frei leben können.

Weimer: Sie zeichnen immer wieder das Bild eines Staates, der immer höhere Anforderungen hat, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten, und ein immer größeres Problem mit illoyalen Mitarbeitern. Mein Eindruck ist eher, wir haben es hier mit einem Staat zu tun, der als Reaktion auf die terroristische Herausforderung immer weiter aufrüstet und Freiheitsrechte aufgibt. Da bin ich natürlich eher bei den Liberalen, die sagen, wir müssen die Freiheit der Zivilgesellschaft verteidigen.

Schily: In allen Ehren, ich bin selbst ein liberaler Grüner in der SPD.

Weimer: Eigentlich sind Sie ein Konservativer. Sie sind konservativer als ich, Herr Schily.

Und das will was heißen.
Weimer: Ob liberal oder konservativ, es gibt viele Menschen, die haben mittlerweile das Gefühl, wir leben in einem Überwachungsstaat.

Schily: Wissen Sie, für Ihre Gefühle kann ich nichts. Aber ich sag Ihnen mal eines, als jemand, der aus einer Zeit kommt, in der es wirklich keine Freiheit gegeben hat. Ich weiß, wie viel Angst meine Mutter hatte, dass sie von ihrer Haushaltshilfe angezeigt wird, weil sie Hitler als Verbrecher bezeichnet hat. Ich weiß, wie das war. Heute leben wir in einem Staat, der Grundrechte garantiert, in dem wir freier leben können als je zuvor.

Herr Weimer, nach allen gesellschaftlichen Debatten, die die Cicero-Affäre ausgelöst hat, und auch nach dem Streit, den wir hier miteinander ausgefochten haben, haben wir, Sie als mein Vorvorgänger und ich, am Ende nicht auch Grund, den Ermittlungsbehörden und Herrn Schily dankbar zu sein?
Schily: Ja, für die Reklame. Natürlich!

Weimer: Vielleicht braucht es alle paar Jahrzehnte einen Skandal für die innere Hygiene der politischen Kultur. Ich hätte es mir trotzdem ganz gerne erspart. Denn auch wenn im Nachhinein häufig gesagt wird, „für Sie war das doch eine gute Sache“, war es trotzdem verdammt unangenehm, in einem solchen Verfahren zu stecken und sich mit der Frage auseinandersetzen zu müssen: „Bin ich nicht doch am Ende kriminell geworden?“ Das ist nicht schön, und deshalb würde ich das auch keinem anderen Kollegen wünschen.

Das Gespräch mit Otto Schily und Wolfram Weimer erschien in der November 2015 Ausgabe des „Cicero“. Bestellen können Sie es in unserem Online-Shop

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