Verfassungsreform in Russland - Putins Stärke resultiert aus der Schwäche des Westens

Russland stellt sich außerhalb des internationalen Rechts. Putins neue Verfassung zementiert nicht nur seine autokratische Herrschaft. Sie ist auch eine Kampfansage an den Westen. Der muss daraus endlich Konsequenzen ziehen.

Hybride Kriegsführung gegen westliche Demokratien: Wladimir Putin / dpa
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Richard Herzinger arbeitet als Publizist in Berlin. Seine neue Website „hold these truths“ finden Sie hier: https://herzinger.org/

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Lange Zeit hatten sich internationale Experten den Kopf darüber zerbrochen, mittels welcher Schachzüge es Wladimir Putin wohl gelingen könnte, nach Ablauf seiner Amtszeit als russischer Präsident zumindest indirekt die Fäden der Macht in der Hand zu behalten. Die Auflösung des Rätsels erwies sich als ebenso  banal wie monströs: Putin hat sich selbst eine neue Verfassung auf den Leib geschneidert, um seine Herrschaft zu verewigen. Damit dürften die letzten Zweifel daran beseitigt sein, dass wir es in Russland mit einer Autokratie zu tun haben, die zunehmend ohne scheindemokratische Fassade auszukommen glaubt. 

Putin könnte nunmehr bis 2036 Präsident bleiben – und dass er Wege finden wird, seine Regentschaft sogar noch darüber hinaus zu verlängern, ist nicht auszuschließen. Robert Mugabe etwa, der Diktator Zimbabwes, hielt sich bis ins Alter von 93 Jahren am Ruder.

Hybrider Krieg gegen westliche Demokratien 

Mit dem offensichtlich manipulierten Referendum, bei dem nach offiziellen Angaben annähernd 80 Prozent der Bevölkerung der Verfassungsreform zugestimmt haben sollen, hat Putin innerhalb einer Woche die zweite spektakuläre Demonstration seines ungebremsten Herrschaftswillens geliefert. Die trotz anhaltend akuter Covid-19-Gefahr Ende Juni auf dem Roten Platz in Moskau durchgeführte gigantische Militärparade anlässlich des Kriegsendes in Europa vor 75 Jahren sollte seinem Volk vor Augen führen, dass Stolz und Größe Russlands untrennbar mit seiner Führung verbunden seien. Doch Putin sandte damit auch ein massives Signal an den Westen: Russland sei wieder eine Großmacht, an dessen Willen vorbei keine globalen Entscheidungen mehr getroffen werden könnten.

Sein mit wachsender Aggressivität verfolgtes Bestreben, die Geschichte und Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs im Sinne seines neosowjetischen und großrussisch-nationalistischen Narrativs umzuschreiben, ist Bestandteil seiner hybriden Kriegsführung gegen die westlichen liberalen Demokratien und die auf ihren Werten basierende liberale Weltordnung. Um sie zu unterminieren, glorifiziert das Putin-Regime Russland als wahren Retter der Menschheit vor der NS-Barbarei und instrumentalisiert die Erinnerung an den opferreichen Kampf der Völker der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zur Legitimierung seiner aktuellen neoimperialen Gewaltpolitik. 

Symbiose von Mafia und Geheimdiensten 

Die Erwartungen mancher westlicher Kommentatoren, Putins Regime werde durch sein katastrophales Missmanagement der Corona-Krise sowie durch sinkende Ölpreise auf dem Weltmarkt ins Wanken geraten, haben sich somit einstweilen als Wunschdenken erwiesen. Einmal mehr sind diese Beobachter einem im Westen weit verbreiteten Denkfehler aufgesessen: dass ökonomischer und gesellschaftlicher Niedergang eine Diktatur zwangsläufig schwächen müssten. In Wahrheit scheren sich Autokratien nicht um das Wohlergehen ihrer Bevölkerung, solange ihr Repressionsapparat intakt ist und sie über die Mittel verfügen, die Machteliten ihres Landes durch materielle und ideologische Korrumpierung bei Laune zu halten.

Wie stabil Putins Herrschaftsmodell, das sich auf die Symbiose von Mafia und Geheimdiensten stützt, auf lange Sicht tatsächlich ist, kann indes niemand mit Sicherheit sagen. Es wäre jedoch fahrlässig, nicht davon auszugehen, dass den westlichen Demokratien in Putins Russland ein dauerhafter, zu allem entschlossener Gegner erwachsen ist, den man nicht durch „Dialog“ und gutes Zureden im Zaum halten kann, sondern nur mittels konsequenter politischer und militärischer Abschreckung. 

Europarat hat vor Russland kapituliert 

Putins neue Verfassung, durch die er nunmehr unverhüllt auf die Justiz durchgreifen kann, und in der unter anderem die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare zementiert wird, zerstört nicht nur die letzten Hoffnungen auf eine innere Demokratisierung des Landes. Sie manifestiert auch die Entschlossenheit des Putin-Regimes, sich definitiv vom europäischen Rechtverständnis abzukoppeln. Durch die Verankerung der Priorität nationalen Rechts vor der Autorität internationaler Gerichtsbarkeit in Russlands Verfassung hat es die EU jetzt nicht mehr nur mit einem Staat zu tun, dessen Auslegung grundlegender europäischer Rechtsnormen von der europäischer Demokratien gravierend abweicht, sondern mit einer Macht, die die Geltung dieser Normen im Grundsatz negiert.

Eine peinliche Schlappe bedeutet diese Entwicklung nicht zuletzt für die Parlamentarische Versammlung des Europarats, die Russland im vergangenen Jahr das Stimmrecht zurückgab, obwohl sich an den Gründen für dessen Entzug – die Annexion der Krim und Moskaus Aggression in der Ostukraine – nichts geändert hat. Zur Begründung für diese Kapitulation war damals von führenden europäischen Politikern das Argument zu hören, Russland im Europarat zu halten, sichere der russischen Zivilgesellschaft die Möglichkeit, gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen die Hilfe der europäischen Justiz in Anspruch zu nehmen. 

Bomben auf zivile Einrichtungen in Syrien 

Dabei hatte Moskau im Umgang mit supranationalen Gerichtsentscheidungen bereits seit geraumer Zeit Willkür walten lassen. So weigerte es sich wiederholt, Entscheidungen des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs umzusetzen, und die Anordnung des Internationalen Seegerichtshofs, die bei dem Überfall der russischen Marine auf ukrainische Schiffe in der Straße von Kertsch Ende 2018 festgesetzten Seeleute freizulassen, wurde vom Kreml schlichtweg ignoriert. Nun aber hat Putin seine Untertanen qua Verfassung von der Option abgeschnitten, juristischen Beistand aus Europa einzuholen. Das Einknicken des Europarats hat ihn dazu ermutigt, in der Missachtung europäischer Institutionen noch weiter zu gehen als bisher. 

Unter Putins Führung verstößt Russland seit Jahren aggressiv gegen internationales Recht – in dem Bewusstsein, dafür keine ernsthaften Konsequenzen vonseiten der internationalen Gemeinschaft fürchten zu müssen. So  hält Moskau ohne jedes Anzeichen von Kompromissbereitschaft an der völkerrechtwidrigen Einverleibung der Krim und an der militärischen Besetzung von Teilen der Ostukraine fest. In Syrien bombardiert die russische Luftwaffe ohne Rücksicht auf das humanitäre Völkerrecht systematisch zivile Einrichtungen, und im Libyen-Krieg mischt der Kreml mittels einer Schattenarmee, bestehend aus Söldnern der „Wagner-Gruppe“, aufseiten des abtrünnigen Generals Haftar mit. 

Ergebener Günstling im Weißen Haus 

Zunehmend scheint sich das Putin-Regime auch nicht zu scheuen, Mordanschläge auf dem Territorium westlicher Länder ausführen zu lassen. Nach der Giftattacke im britischen Salisbury 2018 ist die Ermordung eines tschetschenischen Dissidenten im Berliner Tiergarten vergangenen Sommer, die nach Einschätzung der Bundesanwaltschaft von der russischen Regierung in Auftrag gegeben wurde, ein weiteres Indiz dafür.

Dennoch klammert man sich im Westen mehr denn je an die Vorstellung, Russland könne und müsse als globaler Stabilitäts- und Sicherheitspartner gewonnen werden. Besonders Frankreichs Präsident tut sich gegenwärtig darin hervor, Putin in diesem Sinne zu umgarnen. Und während der US-Senat scharfe Sanktionen gegen Russland verhängt hat, amtiert im Weißen Haus ein ergebener Bewunderer und Günstling des Kreml-Herrschers, der diese Maßnahmen unterläuft. Es bleibt dabei: Putins wachsende Stärke resultiert aus der Schwäche und Desorientierung des Westens – mit fatalen Konsequenzen für die Zukunft der westlichen Demokratien. 

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