Verfassungsreferendum in Russland - Ach, Putin.

Seit zwei Jahrzehnten arbeiten sich Politologen, Journalisten und sonstige Experten an Putin ab. Wie es aussieht, beginnt gerade erst die zweite Halbzeit. Ändern wird sich nur etwas, wenn in Russland der Leidensdruck groß genug wird.

Starker Mann Putin - ein Demonstrant mit einer Putin-Maske auf dem Pariser Platz in Berlin im Februar 2019 / picture alliance
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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„Olga, bitte sage mir: Is Putin eine Demokrat oder is Putin eine Diktator?“ wollte unser Familienfreund Giovanni, Jura-Professor aus Italien, bei wirklich jedem unserer Heimatbesuche in meinem schwäbischen Elternhaus wissen, dazu wandte er sich an meine russische Ehefrau. Für gewöhnlich tat sie sich schwer mit der Antwort. Am Ende einigte man sich darauf, dass Putin wohl der sei, den sich die meisten Russen momentan an der Spitze ihres Staates wünschen.

Ich persönlich bin dieser Diskussionen müde, denn so geht das nun schon seit zwei Jahrzehnten: Zu meinem Studienbeginn der Russistik und Osteuropäischen Geschichte vor zwei Jahrzehnten kam Putin an die Macht, während meiner Jahre als Russland-Korrespondent 2008-2013 blieb er an der Macht (auch wenn er für eine Legislaturperiode ins Amt des Premierministers wechselte), und die erwartungsgemäß erfolgreiche Volksabstimmung über die Verfassungsänderung macht nun den Weg dafür frei, dass Putin noch bis 2036 an der Macht bleiben kann. Natürlich lässt die darin enthaltene „Annullierung“ seiner ersten Amtszeiten, die ihm weitere Kandidaturen für das Präsidentenamt ermöglicht, jeden Verfassungsrechtler in schallendes Lachen ausbrechen. Aber was tun, wenn die meisten Russen es schulterzuckend zur Kenntnis nehmen?

Der Leidensdruck ist offenbar nicht groß genug

Wie bei früheren Wahlen wird es auch in diesem Fall Fälschungen gegeben haben, und mit seinen „administrativen Ressourcen“ sorgt der Staatsapparat dafür, dass Lehrer, Armeeangehörige und sonstige staatliche Angestellte brav zur Urne gehen und ihr Kreuzchen an der richtigen Stelle machen. Aber das Ergebnis dieser Abstimmung – 78 Prozent für die Verfassungsänderung bei einer Wahlbeteiligung von etwa 65 Prozent – ist keine freihändig ausgedachte Zahl - das könnte sich auch ein Putin nicht leisten. Der russische Präsident hat noch immer eine breite Machtbasis.

Die russischen Oppositionellen und die meisten westlichen Politikwissenschaftler und Korrespondenten erzählen uns seit Jahren, wie Putin dem Land geschadet habe: vom Exodus der jungen Gebildeten, von der Schwächung der Zivilgesellschaft, von der Gleichschaltung der Medien, von der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, von der Aushöhlung der Demokratie. Das alles ist immer und immer wieder beschrieben worden. Am Ende bleibt aber eine Frage: Wenn alles so schrecklich ist im Reiche Putins, warum gehen die Menschen dann nicht millionenfach auf die Straße, um dieses Regime zu stürzen?

Die Antwort ist: Offenbar ist der Leidensdruck nicht groß genug. Und all die bissigen Kommentare über Putin, die unsere Medien in den letzten zwei Jahrzehnten verfasst haben, sie bleiben – auch wenn sich das manch ein Kommentator anders wünschen würde – in Russland selbst wirkungslos. Ja, die Russen sehen, dass es nach dem großen wirtschaftlichen Aufschwung des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends nicht mehr so recht vorangeht. Auch die Aushöhlung der bürgerlichen Freiheiten ist vielen bewusst. Aber die Einschränkung der Bürgerrechte ist eben nicht so einschneidend, dass sie die Menschen in ihrer Mehrheit schmerzen würde.

Die Bewohner Russlands wägen ab

Auf der anderen Seite sehen die Bewohner Russlands, dass ihre Freiheiten im Vergleich zu „echten“ Diktaturen, darunter auch die selbst erlebte Sowjetunion, ungleich größer sind: Wer möchte, kann im Internet die schonungslosen Berichte der oppositionell ausgerichteten Sender Echo Moskaus oder TV Rain verfolgen, dasselbe gilt für die russischsprachigen Dienste der BBC, der Deutschen Welle und von Radio Free Europe. Man muss es aber wollen. Und so absurd es klingen mag: Die meisten Russen wollen sich das nicht anschauen.

Die Russen können heute reisen, wohin sie wollen. Bei den weniger Betuchten ist es vielleicht nur ein Strandurlaub in die Türkei, bei den besser Betuchten Venedig und Paris. Und die Bewohner Russlands sehen auch, dass die Infrastruktur ihres Landes im Vergleich zum Jahr 2000, als Putin die Macht übernahm, in weiten Teilen des Landes auf Vordermann gebracht worden ist. Das gilt gerade nicht für die Dorfstraße, aber für die großen Überland-Straßen des Landes, für die Zugverbindungen und für die Flughäfen. Zuletzt konnte ich mich davon überzeugen, als ich 2018 während der Fußball-Weltmeisterschaft in sechs Wochen von Jakutien mit Boot, Bahn und Flieger bis Moskau reiste. Wer möchte, kann das auch heute noch nachlesen, um einen breiten Eindruck vom Land zu bekommen.

Führt Putin die Monarchie wieder ein?

In den großen Städten hat sich inzwischen eine Schicht selbstbewusster Menschen gebildet, für die der Vergleich mit Europa, nicht aber jener mit der Sowjetunion relevant ist, und die bei Wahlen mehrheitlich gegen das Putin-Regime stimmt. Aber das ändert nichts an der Grundtendenz: Noch immer sticht für eine Mehrheit der Russen bei der Abwägung von Plus und Minus einer weiteren Regentschaft Putins das Argument der Stabilität alles andere. Man mag das frustrierend finden. Ich habe reichlich Freunde, die Putin satt haben. Aber die Erinnerung an die Anarchie und den Verfall der 90er Jahre ist gerade bei der älteren Generation noch immer lebendig.

Ich erinnere mich heute an ein Buch mit Putin-Interviews, das der treue Kreml-Korrespondent Andrej Kolesnikow kurz nach Putins Amtsantritt veröffentlichte. Kolesnikow erzählte mir ein paar Jahre später, dass Putin bisher nur zwei Ideen aus diesem Buch noch nicht umgesetzt hätte. Das eine war der Eintritt Russlands in die NATO. Das können wir wohl ad acta legen. Die andere Idee war die Wiedereinführung der Monarchie.

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