US-Truppenabzug - Der Westen hat Afghanistan aufgegeben

Nach 19 Jahren Krieg haben die USA mit dem Rückzug ihrer Truppen aus Afghanistan begonnen. Bis 2021 verlassen sie das Land als Besiegte. Die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch und kontrollieren ein Fünftel des Landes. Was bedeutet das für die Zivilbevölkerung?

Abschied als Besiegte / picture alliance
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Jan Jessen leitet die Politikredaktion der Neuen Ruhrzeitung. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Krisen- und Konfliktberichterstattung 

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Manchmal sprechen die Ereignisse für sich. Am Montag, dem Tag, an dem die USA mit ihrem Truppenabzug aus Afghanistan begannen, ließen sich zwei Männer als Präsidenten des kriegsgebeutelten Landes vereidigen, der eine im Präsidentenpalast in Kabul, der andere im nicht weit entfernten Sapedar-Palast: Aschraf Ghani, der offiziell als Wahlsieger aus dem Urnengang im vergangenen September hervorgegangen war, und sein Langzeitrivale Abdullah Abdullah, der das Ergebnis der Wahlen anzweifelt.

Eine schwere politische Krise just zu der Zeit, in der sich die kriegsmüde Supermacht und ihre westlichen Verbündeten vom Hindukusch zurückziehen – es scheint, als sei die Zukunft des Landes vorgezeichnet, und schlimmstenfalls wird sie sich nicht von dem Szenario in den neunziger Jahren unterscheiden, als Afghanistan nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen in einem blutigen Bürgerkrieg versank, aus dem schließlich die Taliban als Sieger hervorgingen. Jetzt haben sich die USA mit den Taliban darauf verständigt, dass ihr Militär das Land verlässt. Im ersten Schritt werden 4.400 Soldaten nach Hause zurückkehren, 2021 folgt dann der Rest. 

54 Bundeswehrsoldaten und 220 US-Soldaten starben 

Man muss nicht über prophetische Gaben verfügen, um zu erahnen, dass nach dem Ende des militärischen Engagements das Interesse des Westens an Afghanistan in Gänze schwinden wird, trotz aller Lippenbekenntnisse. Auch in den neunziger Jahren sah die Welt teilnahmslos zu, wie die zuvor gegen die Sowjetunion aufgerüsteten unterschiedlichen Mudschaheddin-Fraktionen sich gegenseitig zerfleischten. Bereits jetzt sind die regelmäßigen Kampfhandlungen in Afghanistan und der Zerfall der Ordnung weitgehend aus dem medialen und politischen Fokus verschwunden.

Ein Eingeständnis des Scheiterns nach 19 Jahren am Hindukusch wird der Politik, ob in den USA oder in Deutschland, nicht zu entlocken sein. Es würde auch schwer fallen angesichts der erbrachten Opfer. 54 Bundeswehrsoldaten und weit über 2200 US-Soldaten gaben ihr Leben, seit der Westen im Jahr 2001 in Afghanistan intervenierte und die Taliban-Regierung stürzte.

Die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch

Die Fakten aber sprechen für sich: Die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch und kontrollieren ein Fünftel des Landes. Die mit Milliarden-Investitionen trainierten und aufgerüsteten afghanischen Sicherheitskräfte erleiden immer wieder schwerste Verluste und sind ohne Luftunterstützung kaum noch imstande, den Taliban etwas entgegenzusetzen. Allein im Februar starben nach Zählung der Agentur Pajhwok Afghan News 531 Menschen bei über 100 Angriffen.

Zudem hat sich die Afghanistan-Fraktion des sogenannten Islamischen Staates zu einer ernstzunehmenden Größe entwickelt, die durch besonders brutale Anschläge insbesondere auf die schiitische Minderheit das Land weiter destabilisiert. Bei der Vereidigung Ghanis schlug in der Nähe eine Rakete ein, abgefeuert von Milizionären des Islamischen Staates. Eine Machtdemonstration.

Verantwortung für die afghanischen Frauen 

Besonders bitter ist die Situation für die Mädchen und Frauen im Land. Die westliche Allianz war mit dem erklärten Ziel in Afghanistan einmarschiert, das Leben derer zu verbessern, die von den Taliban unter die Burka und aus dem öffentlichen Leben gezwungen worden waren.

2008 verteidigte die damalige Bundesentwicklungs-Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul die Entscheidung zur Verlängerung des ISAF-Mandats der Bundeswehr mit den Worten: „Ich habe 2001 versprochen, dass wir an der Seite der afghanischen Frauen stehen werden und es auch bleiben. Ich stehe zu dieser Verpflichtung und fühle mich daran gebunden.“

Deal zwischen Siegern und Besiegten 

Tatsächlich können viele Mädchen heute die Schule besuchen, junge Frauen können studieren, in die Politik oder in die Wirtschaft gehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass laut einer Gallup-Umfrage 91 Prozent der Mädchen in Afghanistan allenfalls die Grundschule absolvieren. Und auch, wenn die Taliban nicht mehr ganz so radikal auftreten wie in den neunziger Jahren, zwingen sie Frauen in ihrem Herrschaftsgebiet unter das islamische Recht. Es spricht Bände, dass nach besagter Umfrage nahezu die Hälfte der Frauen das Land verlassen will.

Das Abkommen zwischen den Taliban und den USA ist kein Deal auf Augenhöhe. Es ist ein Abkommen zwischen Siegern und ausgelaugten Besiegten. Der Westen hat Afghanistan aufgegeben und die Zivilisten dort den Taliban überlassen. 

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