Unruhen in Südafrika - Ein Land im Verfall

Fassungslos starrt die Welt auf die jüngsten Zerstörungs- und Plünderungsorgien in Teilen Südafrikas. Die vor allem kriminell motivierten Taten sind nicht zuletzt Folge der chaotischen Staatsführung unter Ex-Präsident Zuma und dessen Plünderung der Staatskasse. Doch Schuld an der Lage hat auch der Westen.

Aufräumarbeiten vor einem Einkaufszentrum nach den Ausschreitungen / dpa
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Wolfgang Drechsler berichtet seit 1990 als Korrespondent aus Südafrika. Er hat den Übergang des Landes von der Apartheid zur Demokratie begleitet. Er schreibt u.a. für das Handelsblatt und Finanz und Wirtschaft (Zürich). 

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Als begnadeter Redner wird Cyril Ramaphosa sicherlich nicht in die Geschichte eingehen. Die Ansprachen des südafrikanischen Präsidenten wimmeln oft vor Gemeinplätzen und leeren Ankündigungen. Seine Rede an die Nation am Freitagabend – fünf Tage nach Beginn der schlimmsten Zerstörungsorgie, die Südafrika vermutlich jemals erlebt hat – war hingegen dem Anlass entsprechend dringlicher und vor allem selbstkritischer als üblich.

Nachdem er zuvor tagelang die Ausschreitungen heruntergespielt und erst nach längerem Zögern die Zahl der Soldaten verzehnfacht hatte, gestand Ramaphosa nun den in der vergangenen Woche angerichteten schweren Schaden an Menschen und Wirtschaft vorbehaltlos ein und versprach, „jeden Funken des Feuers auszutreten“, das die Küstenprovinz KwaZulu-Natal und die Wirtschaftsmetropole Gauteng verwüstet hat.

Insgesamt habe das Chaos in den vergangenen sieben Tagen 212 Menschenleben gekostet – mehr als 2.500 Aufrührer seien verhaftet, 160 Einkaufszentren und elf große Warenhäuser zerstört worden. Die Gewalt sei nicht spontan, sondern gezielt geplant gewesen von Individuen, die es auf die Zerstörung der verfassungsrechtlichen Ordnung abgesehen und dafür als Vorwand politische Missstände genannt hätten – ein klarer Verweis auf die Festnahme seines Vorgängers Jacob Zuma vor zehn Tagen. Die Aktionen wären darauf gerichtet gewesen, die Wirtschaft zu ruinieren und möglicherwiese sogar den demokratischen Staat aus den Angeln zu heben.

Bürger versuchen, sich selbst zu verteidigen

Trotz der neuen Demut des Präsidenten ist der Schaden in jeder Hinsicht immens und kaum kalkulierbar. Selten ist jedenfalls die Bewunderung für ein Land derart schnell blankem Entsetzen gewichen wie nun im Fall von Südafrika. Fassungslos starrt die Welt auf die jüngsten Zerstörungs- und Plünderungsorgien in der Küstenprovinz KwaZulu-Natal mit der Hafenstadt Durban sowie dem Großraum Johannesburg/Pretoria (Gauteng). Der Schaden dürfte vor allem in KwaZulu-Natal, der Heimat von Ex-Präsident Zuma, in Milliardenhöhe liegen und die Provinz um Jahre zurückwerfen. Von den vier großen Städten des Landes war nur das von der liberalen Opposition gut gegierte Kapstadt verschont geblieben.

Besonders bedenklich: Vielerorts verschanzten sich die Bürger in ihren Häusern und versuchen, sich selbst zu verteidigen, weil Polizei und Armee völlig ineffizient und planlos agierten. Aus Sicherheitsgründen war die extrem wichtige Autobahn N3 zwischen Durban und Johannesburg tagelang gesperrt – ein Indiz dafür, wie sehr der fast überall im Land regierende Afrikanische Nationalkongress (ANC) die Kontrolle verloren hatte.

800 Geschäfte geplündert

Derweil sind die Versorgungsketten in ganz Südafrika schwer beeinträchtigt, in der Millionenstadt Durban werden nun sogar die Lebensmittel, Medikamente und das Benzin bedrohlich knapp. Corona-Impfungen werden vielerorts ausgesetzt. Vor den wenigen noch offenen Geschäften stehen die Leute oft stundenlang an. Hunderte von Unternehmen sind zerstört.

„Es wird zwei bis drei Jahre dauern, um die zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen“, sagte Colin Coleman, der frühere Goldman-Sachs-Chef für die Region südliches Afrika. Die Auffüllung der Warenlager in den geplünderten Einzelhandelsgeschäften werde zehn Wochen dauern. Die Lobby-Organisation Business Leadership South Africa schätzt den Schaden für den Einzelhandel allein auf fünf Milliarden Rand (rund 290 Millionen Euro). Mehr als 200 Shoppingmalls seien attackiert, mehr als 800 Geschäfte geplündert und 100 Läden komplett niedergebrannt worden.

Die vor allem kriminell motivierten Plünderungen sind nicht zuletzt eine Folge der chaotischen Staatsführung unter Ex-Präsident Zuma und dessen Plünderung der Staatskasse. Zwischen 2009 und seiner Entmachtung 2018 haben er und seine Helfershelfer im ANC den Rechtsstaat massiv unterhöhlt und in seiner Glaubwürdigkeit beschädigt. Dies hatte die Zerstörung wichtiger staatlicher Institutionen wie etwa der Strafverfolgungsbehörde und der nun für ihr Nichtstun kritisierten Polizei zur Folge, die genau diesen Missbrauch verhindern sollten.

Warnsignale geflissentlich ignoriert

Seit der Fußball-WM am Kap im Jahre 2010 befindet sich das Land im Verfall, ein Prozess, der zuletzt noch von Corona und einer wirtschaftsfeindlichen Politik beschleunigt wurde. Wegen der unter Zuma noch einmal verschärften Rassenquoten stagniert das Wirtschaftswachstum und verschärft die bereits extrem hohe Arbeitslosigkeit von inoffiziell fast 50 Prozent.

Dass es so weit kommen konnte, liegt aber auch daran, dass die vermeintliche Regenbogennation viel zu lange nichts falsch machen konnte. Weil der Westen hier unbedingt eine afrikanische Erfolgsgeschichte wünschte, übersahen Wirtschaft und Diplomatie geflissentlich alle Warnsignale und beschönigten die Lage. Fast über Nacht wird nun deutlich, auf welch dünnem Fundament die junge Demokratie am Kap ruht – eine Erkenntnis, die nach dem Ende der Apartheid noch ein paar Jahre lang von dem vor 2013 verstorbenen Freiheitshelden Nelson Mandela verdeckt wurde.

Geballter Mix schlechter Nachrichten

Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Machtantritt des ersten schwarzen Präsidenten des Landes hat nun ein geballter Mix schlechter Nachrichten den (naiven) Optimismus in einen fast apokalyptischen Pessimismus verkehrt. Neben dem wirtschaftlichen Verfall und dem gegenwärtigen Impfdebakel beunruhigt viele vor allem die Zerrissenheit des auch ethnisch tief gespaltenen ANC. Während sich die frühere Widerstandsbewegung seit langem in internen Grabenkämpfen zwischen Anhängern von Staatschef Ramaphosa und seinen Gegnern aufreibt, treibt das Land richtungslos dahin.

Am erschreckendsten ist wohl der klägliche Zustand der überforderten Polizei. Die Ordnungshüter, aber auch die nun zusätzlich eingesetzte Armee zahlen den Preis für den überstürzten Umbau der Gesellschaft in den vergangenen 25 Jahren. Das rigorose Streben des ANC nach Rassenproporz hat alle wichtigen Institutionen nachhaltig geschwächt. Immer öfter zählt nicht etwa die Kompetenz, sondern allein die – schwarze – Hautfarbe. Nach Ansicht des Institut of Race Relation, einem anerkannten und unabhängigen Thinktank, müssten vor allem die Rassenquoten sofort fallen und der total überregulierte Arbeitsmarkt liberalisiert werden, weil seine gegenwärtige Rigidität die Schaffung von Jobs verhindert.

Schwere Energiekrise

Die allgemeine Verunsicherung wird noch durch eine schwere Energiekrise verschärft, die Südafrikas Niedergang als einstiger Hoffnungsträger des Kontinents symbolisiert. Abgesehen von der anhaltend hohen Kriminalität demoralisiert die Menschen am Kap nichts mehr als der chronische Mangel an Strom. Zumal er das jetzt bitternötige Wirtschaftswachstum unmöglich macht.

Das Ausmaß der Gewalt zeigt aber auch, wie schnell das nun wieder aufgekommene Stammesdenken im Zusammenspiel mit kriminellen Gangs ein Land ins Chaos stürzen kann. Während sich der regierende ANC unter Zuma unverfroren bereicherte, blieb die breite Mehrheit der inzwischen fast 60 Millionen Menschen bitterarm und geriet unter Corona, wie auch anderswo in Afrika, wirtschaftlich enorm unter Druck.

Verheerende Folgen

Wie geht es weiter? Die vielen Soldaten auf den Straßen, aber auch der eiskalte Südwinter in Johannesburg sowie eine gewisse Ermüdung dürften die Zerstörungswut allmählich bändigen. Doch was immer auch geschieht: Die Folgen für die Menschen und die bereits zuvor fragile Wirtschaft dürften verheerend sein. Vielleicht entfalten die schweren Unruhen dennoch eine heilsame Wirkung und rütteln die Regierung wach, ehe ein weiteres afrikanisches Land, noch dazu das einzige Industrieland des Kontinents, zum gescheiterten Staat wird.

Andererseits lassen die Geschwindigkeit, mit der Südafrika in die Gewalt gedriftet ist, und der eklatante Mangel an Gegenwehr wenig Gutes erwarten. Leicht wird die Wende zum Besseren nicht werden. Denn ein zweiter Mandela ist nirgendwo in Sicht.

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