Plädoyer des ungarischen Botschafters - „Schluss mit den Totschlag-Argumenten!“

Bei einer von „Cicero” und der Landesvertretung Baden-Württemberg veranstalteten Podiumsdiskussion am 7. November zum Thema Europa kam auch die Rede auf Ungarn. Dabei kritisierte der ehemalige Außenminister Joschka Fischer die Rolle des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán scharf. Unter den Zuhörern im Saal war auch Ungarns Botschafter in Berlin, Péter Györkös. Er bat um Möglichkeit zur Stellungnahme. Hier ist sie

Nach Schließung der Grenzen 2015 war Ungarn vermehrt in die Kritik geraten – zu Unrecht, findet Botschafter Péter Györkös / picture alliance
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Autoreninfo

Péter Györkös ist ungarischer Botschafter in Berlin und Mitglied des internationalen Preiskomitees der Adalbert-Stiftung.

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Auf der von der Baden-Württembergischen Landesvertretung und Cicero organisierten Diskussion bezüglich eventueller Parallelen zwischen der Römischen Republik und der heutigen EU hat der ehemalige Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer starke Behauptungen zu Ungarn und dessen Ministerpräsidenten formuliert. Es wurde mir leider verwehrt, vor Ort darauf zu reagieren. Das ist recht verbreitet in dem deutschen politischen und medialen Raum; getreu des Cicero-Mottos „Magazin für politische Kultur“ signalisierten seine Redakteure jedoch Offenheit, eine Stellungnahme des Botschafters zu veröffentlichen; dafür möchte ich ihnen bereits vorab meinen Dank aussprechen.  

Joschka Fischer bekleidete das Amt des Vizekanzlers und Außenministers von 1998 bis 2005. Ungarn führte zwischen 1998 und 2002 Beitrittsverhandlungen mit der EU und wurde 2004 Mitglied der EU. Als Sekretär der ungarischen Verhandlungsdelegation für den EU-Beitritt Ungarns habe ich die fachliche und persönliche Erfahrung, um behaupten zu können, dass Joschka Fischer eine entscheidende Rolle beim Beitritt meines Landes zur EU und bei der Wiedervereinigung Europas hatte. Dafür gebühren ihm Respekt und Anerkennung. Respekt und Anerkennung sind auch kein Hindernis, sondern vielmehr die feste Wertebasis, auf der ich – in meiner jetzigen Eigenschaft als Botschafter von Ungarn in Berlin – auf seine in der Gegenwart formulierten Behauptungen reagieren möchte. Als ich meine diesbezügliche Absicht bei der Konferenz andeutete, hieß es, wir Ungarn „würden immer sofort die Opferrolle einnehmen“. Das stimmt so natürlich nicht. Wir sind gerade für den europäischen Dialog. Wir glauben an ein Europa der Argumente. Wir versuchen, an die Bedeutung von Tatsachen zu glauben. Und wir versuchen vehement dagegen einzutreten, dass über Ungarn nur schlechtes oder gar nichts zu gesagt werden darf. 

Ungarn glaubt an ein starkes Europa

Dies vorausgeschickt, wenden wir uns zunächst der historischen Dimension zu, dem Vorwurf der „Geisel von Trianon”. Die Geschichte der einzelnen Nationen ist in den meisten Fällen eine Abfolge von Licht und Schatten. Deren Aufarbeitung ist innerste Angelegenheit einer jeden Nation. Ebenso die Frage, wie sich die jeweilige Nation zu ihrer eigenen Gegenwart und Zukunft, bzw. der ihrer Mitnationen positioniert. Erst vor wenigen Tagen sagte der Bundespräsident in seiner Rede, es sei Kern des demokratischen Patriotismus davon auszugehen, dass die besten Tage unserer Nation noch vor uns liegen. Seien Sie versichert, genau das ist heute der Kern von Ungarns nationaler, regionaler und europäischer Strategie. Wir hätten gern ein starkes Europa, wir glauben an die Fähigkeit der europäischen Souveränität – aber das geht nur, wenn auch die einzelnen Mitgliedstaaten stark sind.

Ungarn möchte stark sein, dazu ist es jedoch notwendig, dass auch die EU und die Mitgliedstaaten und somit auch seine Nachbarn stark sind. Zur Entkräftung des Trianon-Vorwurfs stehe hier ein Zitat von Ministerpräsident Viktor Orbán: „Natürlich verfolgen wir unsere Interessen, doch haben wir im Lauf der Geschichte gelernt, dass wir nur erfolgreich sind, wenn unsere Nachbarn gemeinsam mit uns erfolgreich sind.“ Als er das sagte, stand neben ihm sein slowakischer Amtskollege. 

Lassen Sie mich dazu noch ein konkretes Beispiel anführen: In der bereits sehr heißen Phase des diesjährigen Wahlkampfes eröffnete Ministerpräsident Viktor Orbán mit dem serbischen Präsidenten im serbischen Subotica eine mit Mitteln aus dem ungarischen Staatshaushalt restaurierte Synagoge. Gemäß eines von der ungarischen Regierung im Holocaust-Gedenkjahr gefassten Beschlusses versuchen wir, mit vielen Milliarden Forint im gesamten Karpatenbecken zahlreiche Synagogen vor dem Verfall zu retten. Wir empfinden es als unsere moralische Pflicht, für ein Europa, für ein Mitteleuropa, für ein Ungarn einzustehen, in dem Juden und Christen ohne Angst leben können.

Demokratiestreit zwischen Ungarn und Soros

Das führt uns zum zweiten Vorwurf, der mit dem Namen George Soros verknüpft ist. Ungarn kommuniziert und vertritt Antisemitismus gegenüber innenpolitisch eine Nulltoleranzpolitik und tut auch jenseits der Landesgrenzen alles für die praktische Umsetzung dieser Überzeugung. Die mit George Soros geführte Debatte fokussiert sich auf zwei Grundelemente. Zur Entkräftung der zu beiden Themenkreisen permanent und systematisch formulierten Vorwürfe gegen Ungarn ziehe ich zwei von George Soros selbst formulierte Positionen heran. Zum einen ist sein in der New York Times am 17. Juli 2018 veröffentlichtes, ungewohnt langes Interview nach unserer Einschätzung eine ziemlich eindeutige Erklärung für den zwischen ihm und der ungarischen Regierung entbrannten Demokratiestreit.

Der zweite, noch besser bekannte Streitpunkt betrifft die Migration. George Soros selbst hat den von vielen als nicht existent und als Erfindung Ungarns verbrämten „Soros-Plan“ in der Ausgabe des Project Syndicat vom 26. September 2015 publiziert, den auch Die Welt ein paar Tage später, um genau zu sein in ihrer Ausgabe vom 2. Oktober 2015, veröffentlichte. Der Verfasser stellt zwei Dinge klar: Zum Thema Migration hat er eine Vision und einen Plan. Das steht ihm selbstredend frei, ebenso, wie es der ungarischen Regierung freisteht, in jedem einzelnen Punkt anderer Auffassung zu sein. Zum anderen definiert der Autor selbst den Plan als Gegenentwurf zu Viktor Orbáns Plan. Das bestätigt er auch ziemlich eindeutig in der Ausgabe des Wall Street Journal vom 8. November 2015, wo er darüber berichtet, dass die von ihm und seiner Stiftung vertretenen Werte nicht von allen geteilt werden, und er bereit ist, insbesondere in Ungarn aktiv mit all jenen zusammenzuarbeiten, die sich gegen die Auffassung des jetzigen Ministerpräsidenten Viktor Orbán positionieren. 

Die Entwicklungsgeschichte zwischen 2015 und 2018 zeigt meiner Ansicht nach recht deutlich, wer von Anfang an eine klare Linie und einen konsequenten Standpunkt vertreten hat, und auch, wem das tatsächliche Geschehen innerhalb und außerhalb der EU Recht gibt. Auch ist meiner Auffassung nach ein weiterer wichtiger Umstand, dass sich nur eine der beiden miteinander im Konflikt stehenden Parteien dieser Sachfrage, die Millionen von Bürgern interessiert, mehrmals demokratischen und freien Wahlen gestellt hat.

Ungarn ist nicht unsolidarisch

In nicht geringem Ausmaß wurde Ungarn hier, wie auch regelmäßig schon zuvor, mangelnde Solidarität vorgeworfen. Warum eigentlich? Weil Ungarn das erste und lange Zeit auch das einzige EU-Mitglied war, das unter Mobilisierung gewaltiger finanzieller und personeller Ressourcen den Beweis antrat, dass sich die Außengrenzen schützen lassen? Weil Ungarn unterdessen nicht nur Kritik, sondern in vielen Fällen auch verletzende Vorwürfe einstecken musste? Weil Brüssel die von Ungarn finanzierten Mittel „aus prinzipiellen Gründen“ nicht aufgestockt hat? Weil Ungarn trotz der kompletten Auslastung dieser Mittel in bedeutendem Umfang zusätzliche Ressourcen zum Schutz der Westbalkan- und der Mittelmeerroute angeboten hat? Weil Ungarn sowohl von der Größenordnung als auch im Verhältnis zu den Beiträgen anderer eine bedeutende Rolle bei der Bekämpfung der Fluchtursachen und bei der Schaffung möglichst heimatnaher, menschenwürdiger Lebensumstände übernimmt? Weil Ungarn lieber Hilfe exportiert, als Probleme importiert, die auf dem Gebiet der EU nicht zu lösen sind? Weil sich Ungarn als erstes und lange Zeit einziges Mitglied an Schengen und Dublin gehalten hat? Manifestiert sich wirklich so mangelnde Solidarität? 

Und wenn der Streit schon um Solidarität entbrannt ist, sei noch eine andere besondere Geschichte erwähnt, nicht zuletzt, weil die erwähnte Veranstaltung in der Landesvertretung von Baden-Württemberg stattfand. Trotz der Vertreibungen nach dem 2. Weltkrieg – hier war es das ungarische Parlament, das als erstes einen Gedenktag eingeführt hat, drei Jahre vor dem deutschen Bundestag – lebt in Ungarn eine zahlenmäßig bedeutende und in ihrer Kultur und Identität fest verankerte deutsche Minderheit, zusammen mit zwölf anderen nationalen und ethnischen Minderheiten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser deutschen Minderheit in Ungarn hat schwäbische Wurzeln. Von ihnen konnten wir die alte schwäbische Hausfrauenweisheit lernen, dass man das Geld zuerst einmal erwirtschaften muss, bevor man es ausgeben kann. Ungarn hat einmal einen gewaltigen Fehler gemacht und musste 2008 erstmalig unter den Rettungsschirm der Europäischen Kommission und des IWF. 2013 hat die seit 2010 amtierende Orbán-Regierung der Kommission und dem IWF sämtliche Schulden zurückgezahlt und festgehalten, dass wir die Zukunft unseres Landes nicht auf Kosten der Steuerzahler anderer Mitgliedstaaten planen. Angesichts einiger seit nunmehr zehn Jahren laufender europäischer Debatten ist das vielleicht nicht nebensächlich, wo doch so oft von Solidarität die Rede ist. 

Seit wann ist EU-Kritik per se ein Vergehen?

Ein weiterer Vorwurf betraf die ständigen Angriffe aus Budapest auf die EU. Davon weiß ich nichts. Das ließe sich auch schwer erklären, denn die EU, das sind (auch) wir. Ich weiß, dass einzelne Entscheidungen und Vorschläge einzelner Institutionen, insbesondere der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments – die hin und wieder versuchen als System ineinander zu greifen – (auch) von uns scharf kritisiert wurden. Ist das ein Vergehen? Ist es Frevel, in diesem Europa, das so stolz auf seine Meinungsfreiheit ist, Kritik oder eine gegenteilige Meinung zu formulieren? Wie in dem in der ehemaligen DDR gängigen Witz, in dem ein seine Unzufriedenheit mit der Versorgungslage zum Ausdruck bringender Bürger gefragt wird: Bist du gegen den Frieden?

Zu den Mitwirkenden an der Veranstaltung gehörte Ulrike Guérot. Frau Guérots Ansichten zur „Republik Europa“ begegne ich für meinen Teil – und ich betrachte mich als überzeugten Europäer – mit starken Vorbehalten, seit wir uns nach meiner Ankunft in Berlin in meinem Büro zu einem Gespräch getroffen haben. Daran hat sich seither nichts geändert, dessen ungeachtet verfolge ich ihre Arbeit mit Respekt. Im Kontext einer die Institutionen in Brüssel betreffenden Kritik machte Frau Guérot die wichtige Feststellung, dass einige Kritiker Brüssels einen Preis bekommen, während anderen verteufelt werden.

Ungarn ist ein überzeugter Befürworter Europas und zugleich ein gleichberechtigtes, emanzipiertes Mitgliedsland. Wir können, ja wir müssen eine echte inhaltliche Debatte führen. Das ist jedoch nicht so einfach, wenn der Weg in diese Debatte mit Totschlagargumenten versperrt wird, noch bevor sie begonnen hat. Und wenn wir schon die in Artikel 2 des EU-Vertrages formulierten gemeinsamen Werte respektieren wollen, und das tut Ungarn, dann vergessen wir doch auch nicht Artikel 4. Dort wurde die Gleichheit der Mitglieder und die gegenseitige Achtung der nationalen Identität und der jeweiligen Verfassungstraditionen festgeschrieben.

Ungarn hält am Vertrag von Lissabon fest

Im Jahr 2000 hielt Joschka Fischer als Außenminister eine wichtige Rede zur Zukunft der EU. Ich sehe den Verfassungsvertrag als eine Art Ergebnis dieser „Humboldt-Rede“. Das  ungarische Parlament hat den Vertrag als zweites nach Litauen ratifiziert, mit Unterstützung der damals oppositionellen FIDESZ-Partei. Auch Viktor Orbán hat mit Ja gestimmt. Dann lehnten zwei Gründungsmitglieder den Verfassungsvertrag per Volksabstimmung ab. Diese Ablehnung geschah im „Kern“. Nun bildet der Vertrag von Lissabon die gemeinsame Rechtsgrundlage. Wir möchten, dass wir uns daran halten. Beschneiden wir ihn nicht, aber ergänzen wir ihn auch nicht durch die Umgehung der Mitgliedsstaaten und der in diesem Vertrag festgeschriebenen Regeln. 

Das Gesagte zeigt, dass aus einer von einer historischen Grundsituation ausgehenden Konferenz ein stark aktuell-politischer Diskurs wurde. Das heißt, es wurde nicht mit, sondern lediglich über Ungarn gesprochen. Ich bin kein Historiker, dennoch möchte ich zum Abschluss auf einen Punkt in der Geschichte Bezug nehmen. Der Veranstalter stellte in seiner Einführung mit dem Hinweis auf eine Studie von Professor David Engel die Frage, ob es auch in der EU zu einer vergleichbaren Situation kommen könne wie damals in der Römischen Republik, zu deren Untergang die nicht aufzuhaltende Migration, das Unvermögen, dem Druck von außen standzuhalten sowie die Preisgabe und der Verlust der eigenen Identität maßgeblich beigetragen haben. Wenn es nach Ungarn geht, muss sich die EU nicht mit solchen Risiken konfrontiert sehen.
 

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