OSZE-Beobachter der Ukraine-Krise - „Das Misstrauen auf beiden Seiten ist immer noch sehr groß“

Obwohl Russland und die Ukraine 2015 einen Waffenstillstand geschlossen haben, gehen die Kämpfe zwischen pro-russischen Separatisten und der ukrainischen Armee weiter. Der Schweizer Alexander Hug hat die Region für die OSZE beobachtet. Jetzt zieht er Bilanz

 „Wenn einer schießt, schießt der andere zurück“ : Noch immer gilt die Ost-Ukaine noch immer als hoch militarisierte Zone / picture alliance
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Autoreninfo

Simone Brunner lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien. Sie hat in Sankt Petersburg und in Wien Slawistik und Germanistik studiert und arbeitet seit 2009 als Journalistin mit Fokus auf Osteuropa-Themen.

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Seit 2014 kämpfen in der Ost-Ukraine Regierungstruppen gegen pro-russische Rebellen, die von Moskau unterstützt werden. Ihr Ziel ist die Abspaltung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk von der Ukraine. 2015 wurde ein Waffenstillstand geschlossen, doch der ist brüchig. Die Ukraine-Krise gilt als härteste Belastungsprobe der Ost-West-Beziehungen seit Ende des Kalten Kriegs. Alexander Hug war als Vize-Leiter der Beobachtungsmission mehr als vier Jahre lang das Gesicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in der Ostukraine, um die Verstöße gegen die Minsker Friedensabkommen zu dokumentieren. Ende Oktober ist sein Mandat ausgelaufen. Cicero Online hat ihn zu einem letzten Interview in dieser Funktion in Kiew getroffen.

Herr Hug, Sie sind gerade von einer Reise durch das Kriegsgebiet zurückgekehrt. Wie ist die Lage vor Ort?
Wir sehen tägliche Verstöße gegen die Waffenruhe im hohen dreistelligen und vierstelligen Bereich. Am meisten beunruhigt uns der Einsatz der schweren Waffen, weil das die größte Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellt. Die Konfliktparteien stehen sich viel zu nahe gegenüber, obwohl sie eigentlich abgesprochen haben, sich zumindest an einigen Stellen zu entflechten. Außerdem sehen wir fast jeden Tag, dass neue Minen gelegt werden. Es ist das Bild eines hoch militarisierten, angespannten Umfeldes.

Es war Ihre letzte Reise als Vizechef der OSZE-Sondermission. Mit welchem Gefühl legen Sie Ihr Amt nieder?
Es kommt natürlich zu einem Zeitpunkt, den ich persönlich nicht als zufriedenstellend ansehen kann, weil der Konflikt ja immer noch nicht vorbei ist. Ich bin trotzdem überzeugt, dass ein Ende der Kämpfe möglich ist. Wir haben immer wieder gesehen, dass die schweren Waffen abgezogen werden können. Das zeigt uns, dass Befehle erteilt und auch befolgt werden. Aber die Entflechtung muss auf beiden Seiten, spiegelbildlich, erfolgen. Doch das Misstrauen ist sehr groß.

Alexander Haug / OSZE

Zugleich gibt es ja kaum Gebietsgewinne. Warum dieser ständige Beschuss?
Beide Seiten halten ihre schwere Waffen in Gebieten, wo sie (laut dem Minsker Vereinbarungen, Anm.) nicht sein dürften. Noch dazu geben beide Seiten ganz öffentlich zu, dass sie sich das Recht vorbehalten, das Feuer der Gegenseite zu erwidern. Wenn der eine schießt, schießt der andere wiederum zurück. Das bringt kein Ende.

Wo sehen Sie Chancen für einen Frieden?
Der große Unterschied zu anderen Konflikten ist, dass es keinen unterschwelligen Gruppenkonflikt gibt, der auf religiösen, geschichtlichen, ethnischen oder sprachlichen Unterschieden basiert. Es ist bemerkenswert, dass die Menschen, die direkt an der Kontaktlinie leben und ständig unter Beschuss sind, keinen Hass gegen die andere Seite entwickelt haben. Sie sagen, dass das nicht ihr Konflikt ist und dass sie nur ein Ende des Krieges wollen. Bis zu 40.000 Menschen überqueren die Kontaktlinie jeden Tag, etwa um ihre Pensionen abzuholen. In den Köpfen der Menschen ist diese Linie eine künstliche Linie. Aber das kann sich ändern.

Was sind Ihre Befürchtungen?
Ein Kind, das heute zehn Jahre alt ist, kann sich oft an nichts anderes erinnern, als an Krieg, Zerstörung und Propaganda. Ob das Kind nun in Awdijiwka (regierungskontrolliert) oder in Donezk aufwächst. Diese Kinder wachsen in unterschiedlichen Realitäten auf. Irgendwann wird das zu einem Generationenproblem, spätestens dann, wenn sie Führungspositionen einnehmen. Dann könnte es zu einer Verhärtung dieser Linie kommen, die wir derzeit so noch nicht kennen. Gerade deswegen ist es so wichtig, dass diese Linie so schnell wie möglich abgearbeitet wird.

Was konnte die OSZE-Mission in der Ostukraine bisher bewirken?
Ich glaube, dass wir dazu beigetragen haben, dass sich der Konflikt nicht weiter ausgedehnt hat. Die Brennpunkte sind ziemlich klar definiert. Die Mission konnte auch zeigen, wie groß das Leiden der Bevölkerung ist und wie uneinsichtig die Unterzeichner der Minsker Vereinbarungen sind, ihre Versprechen einzulösen. Das sind Moskau, Kiew und die Gebiete in Donezk und Luhansk. Zugleich ist es schade, dass die Konfliktseiten, aber auch die Medien, unsere Berichte nicht dazu genutzt haben, um Lösungsvorschläge zu finden, sondern nur dazu, um mit dem Finger auf die andere Seite zu zeigen. Das sehe ich mit großer Enttäuschung.

Die OSZE-Mission kann vor Ort nur beobachten, aber nicht handeln. Wie ging es Ihnen in dieser Rolle im Kriegsgebiet?
Ich kann natürlich die Erwartungshaltung der Zivilbevölkerung verstehen. Wenn sie uns als Vertreter der internationalen Gemeinschaft sehen, denken sie vielleicht, dass wir in der Lage sind, die Kämpfe zu beenden. Aber wir haben schlichtweg kein Mandat dazu. Ich verstehe die Frustration und würde wohl ähnlich reagieren. Seit Beginn des bewaffneten Konflikts ist kein Tag vergangenen, an dem nicht geschossen wurde. Viele Menschen sind am Ende ihrer Geduld. Und wenn sie uns dann vor Ort sehen, wie wir da Notizen machen, aber es ändert sich doch nichts – da stellen sie sich die Frage, warum wir überhaupt hier sind? Aber wir können nur die Fakten für die Entscheidungsträger zur Verfügung stellen.

Welche Erlebnisse werden Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?
Erfolge lassen sich in unserem Fall nur schwer fassen, weil es ja gerade die Abwesenheit von Gewalt wäre. Deswegen werden es wohl jene Momente sein, in denen ich das Leiden der Zivilbevölkerung gesehen habe. Sei es durch die ständige Bedrohung oder Angst, aber auch das körperliche Leiden, Verletzungen und Tod von Menschen, die ich vielfach vorher gekannt habe. Das sind Momente, die ich nie vergessen werde. Zugleich haben sie mir aber geholfen, alles daran zu setzen, dass die Mission zumindest ihren Teil dazu beiträgt, dieses Leiden zu beenden. 

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