Türkei-Referendum - Drehbuch für einen Gewaltfilm

Weder die Analysten in der Türkei noch die Politiker in Europa scheinen die Konsequenzen des Referendums begriffen zu haben. Warum im Land selbst jetzt Misstrauen und Zwist drohen, und das weltpolitische Gleichgewicht zwischen Ost und West aus den Fugen geraten könnte

Jubelnde Erdogan-Anhänger: „Krieg, Dschihad, Märtyrertum!“ / picture alliance
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Autoreninfo

Cem Sey, 54, ist ein freier Journalist, der für deutsch- und türkischsprachige Medien arbeitet. Für Medien wie Cumhuriyet, CNN Türk, Deutsche Welle und BBC war er als Korrespondent tätig.

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Das Wahlvolk hat abgestimmt. Das Verfassungsänderungspaket des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ist, so scheint es „durch“. Und Kommentatoren und „Experten“ in türkischen Fernsehsendern analysieren und zerpflücken die Wahlkreisauszählungen, als wäre das gestrige Referendum eine Parlamentswahl gewesen.

Sie palavern darüber, was nun aus der Stimmenkonstellation für die nächsten Parlamentswahlen herauszulesen wäre. Welche Partei gestärkt und welche geschwächt sei. „Ähem!“, möchte man dazwischenrufen: Welche Parteien, welches Parlament?

Parteien und Parlament vor Bedeutungslosigkeit

Offenbar haben die türkischen Meinungsmacher noch gar nicht realisiert, was gerade mit hauchdünnem Stimmenvorsprung entschieden worden ist: In der Türkei wurde die parlamentarische Demokratie abgeschafft; einem Präsidialsystem – zudem einem sehr schlechten – der Weg bereitet. Parteien und das Parlament werden künftig kaum noch eine Rolle spielen.

Das Ergebnis ist knapp. Mit etwas mehr als 50 Prozent siegte die islamistisch-nationalistische Koalition, die Erdogan zu diesem Zweck schon lange geknetet hat. Wohl nur mit Hilfe der Auslandstürken, vor allem denjenigen in Deutschland, konnte die „Ja“-Fraktion die 51-Prozent schaffen.

Erdogan ist das womöglich egal. Vernünftige Ratgeber sagen jetzt, dass nach diesem knappen Ausgang des Referendums die grundlegende Umgestaltung des türkischen Staates moralisch fragwürdig sei. Dass mit diesem Ergebnis die eine Hälfte der Gesellschaft nicht nach Belieben über die andere Hälfte im wahrsten Sinne des Wortes herrschen dürfe. Wer Erdogan kennt, weiß, dass er selbst mit einer Mehrheit von einer einzigen Stimme (das wäre in dem Fall, theoretisch seine eigene) sich dazu berechtigt sehen würde.

Ein Morast wurde angelegt

Das Drehbuch für die nahe Zukunft der Türkei wurde quasi über Nacht schon geschrieben. Zwist, Misstrauen und Gewalt werden eine prominente Rolle spielen. Erdogans Gegner sind wütend. Zurecht weisen sie auf Regelverstöße und fragwürdige Abstimmungen hin. Denn nachdem der Urnengang begonnen hatte, änderte die Wahlkommission die Regeln und öffnete damit die Tür für Manipulationen. Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, protestierte: „Die Wahlkommission sorgt dafür, dass die Legitimität dieses Referendums anzweifelbar ist.“ Juristisch, moralisch, politisch wurde ein Morast angelegt, aus dem heraus es keinen leichten Ausweg mehr geben wird.

Erdogan wartete gar nicht erst das Auszählungsergebnis ab. Noch bevor das Endergebnis verkündet wurde, drohte er unverhohlen, dass die Opposition sich keine weiteren Hoffnungen machen solle. Ab jetzt sei das politische System der Türkei anders. „Die Nation hat über das 200 Jahre alte Verwaltungssystem geurteilt“, sagte er. Was er meinte, war, dass sich vor 200 Jahren die türkische Gesellschaft, damals noch Osmanisches Reich, nach Westen hin öffnete.

Damit lässt er keinen Zweifel aufkommen, dass es aus seiner Sicht bei diesem Referendum nicht lediglich um die Abkehr vom parlamentarischen hin zum präsidialen System ging. Vielmehr wurde in seinen Augen dem Projekt zugestimmt, eine grundlegende Neuorientierung der türkischen Politik gen Osten und Islam – und damit gegen den Westen – einzuleiten.

Erdogan will Wiedereinführung der Todesstrafe 

„Krieg, Dschihad, Märtyrertum!“, grölten denn auch seine jungen Anhänger in den Straßen Istanbuls. Sie sind schon längst eingestimmt auf diesen Plan. Und Erdogan selbst fügte hinzu, was sein erster Schritt als Präsident sein werde: die Wiedereinführung der Todesstrafe – wohlwissend, dass diese Aussage einer Absage an Europa gleichkommt.

Die Absage an die andere Hälfte der eigenen Bevölkerung erklärten unterdessen seine Anhänger. Als die enttäuschten Erdogan-Gegner nach der Wahl aus Protest auf die Straße gingen, drohte ihnen der Erdogan-nahe Journalist Ömer Turan mit einem Tweet: „Wer heute eine zweite Auflage von Gezi-Protesten anzuzetteln versucht, würde auch die Zeche der ersten Proteste von damals bezahlen. Wir sind nicht in 2013.“

Erdogan-Fans, wahrscheinlich Mitglieder seiner inoffiziellen Milizen, dem „Ottomanen-Zentrum“, griffen dann auch die Protestierenden tätlich an. Mehrere Personen wurden verletzt. Auch die Polizei ging mit Gewalt gegen Protestierende vor.

Türkei steht vor großen Problemen

Erdogan ist allerdings mit gewaltigen Problemen konfrontiert. Just einen Tag nach dem Referendum wurde die offizielle Zahl der Arbeitslosen in der Türkei bekannt gegeben. Demnach stieg die Arbeitslosigkeit in einem Jahr um 1,9 Prozent und erreichte 13 Prozent – unter Jugendlichen sogar 24,5 Prozent. Die Wirtschaft steht vor einem schmerzhaften Umstrukturierungsprozess. Viele befürchten nicht unbegründet, dass der gestärkte Erdogan die Lösung der Probleme erneut in außenpolitischen Abenteuern suchen könnte.

Wunschdenken von Merkel und Gabriel

Ist daher die Antwort von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel angemessen? Sie begrüßten offiziell das Ende des Wahlkampfes und hoffen, dass die türkische Regierung „nun einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht“. Dass das Wunschdenken ist, wissen sie wahrscheinlich auch selbst.

Elmar Brok, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des EU-Parlamentes und ewiger Gegner eines EU-Beitritts der Türkei, erklärte dagegen die Beitrittsverhandlungen endgültig für gescheitert. Auch der CSU-Mann Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, erklärte die Welt aus seiner Sicht im ZDF: „Diese Lebenslüge, die wir in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei haben, nämlich die Vollmitgliedschaft, die muss jetzt ernsthaft diskutiert werden und aus unserer Sicht vom Tisch genommen werden.“

Europa in der Sackgasse

Diese Reaktionen verdeutlichen, wie ratlos europäische Politiker vor der neu entstandenen Situation stehen und dass auch viele Europäer die Konsequenzen dieses Referendums noch nicht verstehen –  vor allem im konservativen Lager. Denn nun ist man in der Sackgasse angelangt, vor der EU-Befürworter in der Türkei seit Jahren warnten: Die Türkei wird nicht einfach zum alten Status Quo zurückkehren und den Gendarm am Südostflügel der Nato für Europa spielen. Vielmehr verabschiedet sie sich gerade endgültig von der westlichen Gedankenwelt, wechselt die Seiten, bleibt aber dennoch fester Bestandteil westlicher Sicherheitsarchitektur.

Damit sind die nächsten schweren Belastungen für das empfindliche Gleichgewicht zwischen Ost und West programmiert.

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