Türkei - Was das Referendum wirklich bedeutet

Am 16. April wird in der Türkei über das Verfassungsreferendum abgestimmt, das Präsident Erdogan nahezu uneingeschränkte Macht verschaffen soll. Zum Zünglein an der Waage könnten ausgerechnet Wähler seiner AKP-Partei werden

Erdogan-Begeisterung auch in Deutschland / picture alliance
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Autoreninfo

Cem Sey, 54, ist ein freier Journalist, der für deutsch- und türkischsprachige Medien arbeitet. Für Medien wie Cumhuriyet, CNN Türk, Deutsche Welle und BBC war er als Korrespondent tätig.

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Im Provozieren sind die türkische Regierungspartei AKP und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan spitze. Jedes Mittel ist ihnen recht, denn es geht um alles. Sie stacheln Europa auf, um dadurch die nationalistischen Gefühle der türkischen Wähler herauszukitzeln. Das Kalkül ist, dass beim Referendum am 16. April die große Mehrheit den Erdogan’schen Verfassungsänderungen zustimmen wird.

Bewusstseinsvernebelung ist dafür sicherlich notwendig. Denn der Änderungsentwurf, den die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) Anfang des Jahres vorlegte, hat es in sich. Er sieht vor, dass in der Türkei ein Präsidialsystem eingeführt wird. Doch keines, wie es zum Beispiel aus den USA bekannt ist. Geht dieser Entwurf durch, dann will Ankara der Türkei ein politisches System überstülpen, dass selbst turkmenische oder usbekische Standards noch übertrifft.

Alle Macht dem Präsidenten

Insgesamt 18 Paragraphen der existierenden Verfassung sollen geändert, mehrere gleich ganz entsorgt werden. Laut türkischer Anwaltskammer sieht der Entwurf „eine extreme Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten vor, während gleichzeitig die Kompetenzen des Parlamentes beschnitten werden“. Der Präsident soll zwar auch künftig vom Volk gewählt werden, doch Kontrollen müsste er keine mehr befürchten. Das Ministerpräsidentenamt soll abgeschafft werden. Alle Minister sucht der Präsident selbst aus – nach welchen Kriterien, wird nicht näher definiert. Explizit wird allerdings geregelt, dass das Parlament dabei nichts zu sagen hat.

Der Präsident wird schlicht allmächtig: Innen-, Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, internationale Verträge – über all dies könnte er allein entscheiden. Schlimmer, sagen Experten der Anwaltskammer, sei nur noch der Umstand, dass er diese Kompetenzen auch seinen handverlesenen Beratern überlassen dürfe.

Die Parlamentarier hätten zwar weiterhin das Recht, Gesetze zu verabschieden. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass Gesetze im Parlament verabschiedet würden, denen der Präsident nicht zustimmen würde. Denn der wird zeitgleich mit dem Parlament gewählt und darf weiterhin seiner Partei vorstehen. Hinzu kommt: Der Präsident soll nicht nur die Minister, sondern alle Führungspositionen im Staat eigenhändig besetzen dürfen, das heißt, auch die stellvertretenden Minister und die dazugehörigen Abteilungsleitenden.

Die Bremse fehlt

Wo um Himmels willen ist da die Bremse, die starke Kontrollinstanz, die den gegen die Wand rasenden Bus noch zu stoppen vermag, wenn der Fahrer durchdreht? Erdogan und seine AKP haben sie weggelassen. Bisher wurden der Ministerpräsident und sein Kabinett vom Parlament kontrolliert. Nun aber sollen die Parlamentarier keinerlei Recht erhalten, den Präsidenten nach den Details seiner Arbeit zu befragen. Auch das Recht, die Vertrauensfrage stellen zu können, soll abgeschafft werden.

Die Möglichkeit, einen Präsidenten zur Verantwortung zu ziehen, soll nur noch vage existieren. Tatsächlich aber sorgen die hohen, auf zahlreiche Instanzen verteilte Hürden dafür, dass kein politischer Widersacher zum Verfassungsgericht wird durchdringen können. Und selbst für diesen Fall sieht die neue Verfassung vor, dass 4 der 15 Richter künftig direkt vom Präsidenten ernannt werden. Die übrigen dürfen Institutionen vorschlagen, die dem Präsidenten ohnehin unterstehen. Die letzte Entscheidung darüber trifft wiederum der Präsident.

Rechtsstaat existiert nur auf dem Papier

Warum das Präsidialsystem mit so viel Verve angegangen wird? Dafür ist die Erklärung verblüffend einfach: Nur als autoritärer Herrscher kann sich Erdogan vor den negativen Konsequenzen seiner Machenschaften schützen. Bereits vor vier Jahren, als gegen ihn und enge Mitarbeiter schwere Korruptionsvorwürfe erhoben wurden, hatte er emsig mit dem Umbau des demokratischen Systems begonnen. Doch mangelte es ihm damals noch an der notwendigen Legitimation. Um möglichen Anwürfen zu entgehen, brachte Erdogan die Polizei und die Justiz unter seine Kontrolle, indem er zügig jene Beamten entließ und einsperren ließ, die mit diesen Vorwürfen in Verbindung gebracht werden konnten. Der so ausgehöhlte Rechtsstaat existiert seitdem nur noch auf dem Papier.

Doch damit war seiner Lust an der Demontage der türkischen Republik offenbar noch nicht Genüge getan. Denn Erdogan und seine Partei wollen mehr. Sie wollen, dass eine „gläubige Jugend“ heranwächst in einem Land, in dem religiöse Werte den Alltag regieren. Dazu müssen sie vom Westen abrücken. Vor allem aber wollen sie sich in Zukunft mit keiner lästigen Opposition mehr herumschlagen.

Als Beispiel muss dafür Prophet Mohammed selbst herhalten. Er habe ein System geschaffen, erklären die AKPler, in dem er zwar die Entscheidungen getroffen, aber stets vorher seine weisen Berater befragt habe. Von diesem Vorbild ausgehend ist es nur ein kleiner Schritt, aus dem türkischen Parlament ein erleuchtetes Beratungsgremium zu machen.

Die Idee ist nicht neu

Der Traum des Präsidialsystems ist in der Türkei nicht einmal neu. Viele konservative Politiker haben mit der Idee geliebäugelt. Schon Turgut Özal, der heute noch in der Türkei populäre ehemalige Staatspräsident, der auch im Westen durchaus gern gesehen wurde, hatte einen Systemwechsel befürwortet. Doch sein Traum war ein zivilisierter, nach dem US-Vorbild.

Konservative Politiker wissen nur allzu gut, dass die türkische Gesellschaft in ihrem breiten Kern noch immer konservativ ist. Ja, es gibt Modernisierungsschübe und manchmal sogar linke Politiker oder Bewegungen, die konservativen Politikern das Leben schwer machen. Ein Präsidialsystem wäre ein bequemes Dauerrezept gegen solche gelegentlichen Malaisen. Bislang scheiterten diese Fantasien stets am Widerstand eben jener großen Minderheit, den Linken.

Unterstützer

Erdogans setzt mit seinem großen Coup alles auf eine Karte. Eine knappe Mehrheit der türkischen Bevölkerung sieht in ihm einen echten politischen Anführer. Sie vertrauen ihm, wie sie selten zuvor jemandem vertraut haben. Und sie wollen ihren Helden nicht verlieren oder zu sehen, wie er langsam zwischen den Mühlrädchen der parlamentarischen Demokratie verbleicht.

Wo es nach Autoritarismus riecht, da sind auch die nationalistischen Grauen Wölfe nicht fern. Die berühmt-berüchtigte Schlägertruppe, der viel Blut an den Händen klebt, steht offiziell zu Erdogan. Trotz Gemurre in den strammen Reihen wollen sie die in Aussicht gestellte Verfassungsänderung nutzen, um ihre eigene Randlage in der Türkei gegen ein Plätzchen an der zentralistischen Sonne zu tauschen. Mehr noch aber haben sie Angst davor, dass ihre simpel gestrickte Basis die Botschaften durcheinanderbringen könnte, und am Ende zur AKP abwandert.

Gegner

Gegen den radikalen Umbau sind wie üblich die Kemalisten, die wenigen Sozialdemokraten, die alten Eliten des Landes. Sie haben Angst davor, ihre von zunehmender Bedeutungslosigkeit geprägte Stellung in der Gesellschaft endgültig einzubüßen. Und natürlich die radikalen Linken.

Und dann sind da noch die Kurden, die sich schwer damit tun, sich entschieden zu positionieren. Einerseits sieht die kurdische Bevölkerung, die so konservativ wie die türkische ist, keine große Gefahr in der Verfassungsänderung. Andererseits haben die Kurden gerade noch erleben müssen, wie Erdogan vor knapp zwei Jahren mit den Ultranationalisten paktierte und erneut einen blutigen Krieg gegen sie vom Zaun brach.

Die konservative Wählerschaft

Doch zum Zünglein an der Waage könnten am 16. April die konservativen Wähler alter Schule werden. Sie fürchten eine weitere Spaltung der Gesellschaft. Manche klammern sich an den Kemalismus alter Art, getrieben von der Skepsis gegenüber religiös geprägtem Nationalismus. Ähnlich wie die Opposition erkennen sie im Entwurf den Versuch, die Demokratie zu begraben. Auch ehemalige AKP-Politiker gehören dazu. Und die haben einen nicht geringen Einfluss auf die konservative Wählerschaft.

Die traditionell unzuverlässigen Umfragen zeigen eine Tendenz zur Ablehnung der Verfassungsänderung auf. Doch in der Türkei glaubt kaum jemand an einen klaren Trend. Erdogan hat schon so manche Wahl in letzter Sekunde zu seinen Gunsten entscheiden können.

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