Türkei und das Militärbündnis - Raus aus der Nato

Nach dem Türkei-Referendum fordern viele ein Ende der EU-Beitrittsgespräche. Viel wichtiger aber ist die Frage, ob die Türkei weiter in der Nato bleiben soll. Warum mehr dagegen als dafür spricht

Der Nato-Stützpunkt Incirlik in der Türkei könnte durch Flugzeugträger auf dem Meer ersetzt werden / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Es ist wie Schattenboxen. Alle Welt arbeitet sich jetzt daran ab, ob die Beitrittsgespräche der EU mit der Türkei nach dem Ermächtigungsreferendum von Recep Tayyip Erdogan beendet werden sollen. Dahinter steht eine Frage, die es gar nicht mehr gibt. Sie lautet: Kann die Türkei vor dem Hintergrund ihrer Entwicklung der vergangenen Jahre unter Präsident Erdogan in der Nato bleiben?

1952 ist das Land zusammen mit Griechenland Mitglied des transatlantischen Militärbündnisses geworden. Von Anfang an waren weniger gemeinsame Werte als vielmehr geostrategische Interessen ausschlaggebend. Die Türkei ist mit ihrem Luftwaffenstützpunkt Incirlik eine Art stationärer Flugzeugträger der Nato für den Nahen und Mittleren Osten.

Damit verbunden war die Hoffnung, eine kemalistische Türkei Richtung Westen zu binden. Zugunsten dieser militärstrategischen Funktion und dieses politischen Anreizes wurden über Jahrzehnte viele Augen zugedrückt. Die Frage aber ist: Geht das noch? Und muss das überhaupt noch sein?

Artikel 5 verpflichtet zu militärischem Beistand

In den vergangenen 60 Jahren haben sich sowohl die Technologien als auch die Militärstrategie weiterentwickelt. Landgestützte Luftstreitkräfte sind nicht mehr so alternativlos, wie sie es seinerzeit waren. Mehr und mehr gehen vor allem die USA zu flexibleren und mobileren Lösungen, sprich: seegestützten Lösungen über. Also Flugzeugträgern. Weil die Technologien das möglich machen und die Abhängigkeiten von Staaten, von denen man in militärischen Belangen lieber nicht abhängig ist, in den vergangenen Jahrzehnten offenkundig geworden sind. Incirlik steht nicht zuletzt für dieses Dilemma.

Neben der Frage, ob man sich im Zugang zu seiner gemeinsamen Militärbasis und in seinen Einsätzen von einem Herrscher wie Erdogan abhängig machen möchte, stellt sich darüber hinaus die nach Artikel 5 des Nato-Vertrages. Der legt fest, dass die übrigen Nato-Mitglieder im Bündnisfall, also bei einem Angriff von außen, einem Partnerland militärisch beistehen. Zuletzt hatte der Angriff vom 11. September 2001 den Bündnisfall ausgelöst und damit den gemeinsamen Nato-Einsatz in Afghanistan.

„Demoktator“ Erdogan

Erdogan ist spätestens seit dem Referendum zum Präsidialsystem ein „Demoktator“. Ein Diktator, dessen Ermächtigungsgesetz das Volk selbst gewählt, den es sich damit auf die nächsten zehn Jahre selbst als autoritären Führer gegeben hat.

Der Mann ist eine lose Kanone an Bord des Verteidigungsbündnisses, das sich auf gemeinsame Werte gründet. Was, wenn Erdogan beim nächsten Putschversuch abermals fremde Mächte, die Gülen-Bewegung oder wen auch immer, als Gegner ausmacht und die Nato-Partner zum Beistand auffordert? Möchte im westlichen Bündnis jemand vor eine solche Frage gestellt werden? Um diesen Punkt geht es viel mehr als um die sich fast albern ausnehmende Forderung, die deutschen Bundeswehrsoldaten aus Incirlik abzuziehen. Das ist plumper und typisch deutscher Aktionismus, bei dem man sich vielleicht gut fühlt, der aber am eigentlichen Problem nichts ändert.      

Risiken eines Türkei-Austritts

Der frühere Nato-General und Generalinspekteur Harald Kujat hat schon vor einem Jahr die Türkei einen „unsicheren Kantonisten“ in der Nato genannt und die Frage der Mitgliedschaft aufgeworfen. Seither hat sich das Land am Bosporus rasant und unbeirrt weiter zum Gegner des Westens entwickelt. Sicherer ist dieser Kantonist also bestimmt nicht geworden. Im Wahlkampf fürs Referendum hat Erdogan mit wüsten Beschimpfungen des Westens und Europas Stimmung gemacht. Wenn es also neue Technik und neue Strategien möglich machen, auf den Flugzeugträger Türkei zu verzichten, dann sollte man diesen Weg ernsthaft in Betracht ziehen.

Es gibt gewichtige Gegenargumente, zweifellos. Da ist die Gefahr, dass sich die Türkei weiter Russland zuwenden könnte. Das allerdings wäre nur ein Folgefehler der verfehlten Russlandpolitik der Nato. Russland könnte bei mehr politischer Weitsicht und strategischem Verstand schon lange Nato-Partner sein. Dennoch: Die Achse Putin-Erdogan ist keine, die man sich als Kontrahenten wünscht. Zugleich hegt Wladimir Putin aus langjähriger Erfahrung einen tiefen Argwohn gegen alle Politik, die im Gewand des Islam daherkommt. Seine Begeisterung für Erdogans Re-Islamisierung der Türkei wird sich also in Grenzen halten.

So wenig Abhängigkeit wie möglich

Bleiben wie immer die USA. Deren neuer Präsident Donald Trump hat Erdogan nach dem Referendum am Telefon gratuliert und lässt generell hie und da eine unselige Sympathie für Autokraten erkennen. Zugleich wechselt er seine Ansichten schneller als ein Chamäleon die Farbe. Die Nato hielt er zunächst für überflüssig, inzwischen singt er ihr Ständchen. 

Bei allen berechtigten Widerreden und Einwänden: Die Debatte über die Nato-Mitgliedschaft der Türkei muss geführt werden. Schon allein deswegen, weil der Nato-Vertrag gar keinen Ausschluss vorsieht und eine Änderung des Vertrages von allen Partnern ratifiziert werden müsste.

Nach Abwägung der Für und Widers spricht viel dafür, alles zu tun, um sich von diesem Nato-Partner zu verabschieden. Strategisches Ziel des Westens muss sein: so wenig Abhängigkeit von einer Erdogan-Türkei wie möglich. Eine Militärbasis in Incirlik und die Beistandsklausel der Nato als Faustpfand eines „Demoktators“ sind das Gegenteil dessen.

 

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