Syrien - Der große Verrat an den Kurden

Mit seinem Abzug aus Syrien zeigt Donald Trump, dass er einem von Erdogan geplanten türkischen Einmarsch nichts entgegensetzt. So verrät der Westen seine treuesten Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat – mit Folgen auch für Deutschland und die EU

Türkischer Panzer nahe der syrischen Grenze (2014) / picture alliance
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Jan Jessen leitet die Politikredaktion der Neuen Ruhrzeitung. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Krisen- und Konfliktberichterstattung 

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Im Norden Syriens, im Distrikt Derbashia nahe der türkischen Grenze, liegt Jinwar, das Dorf der freien Frauen. Ein Projekt, das in der Region seinesgleichen sucht. 30 Häuser, errichtet mit Ziegeln aus Lehm und Stroh, eine Krankenstation, eine Schule. Hier leben zwei Dutzend alleinstehende Frauen mit ihren Kindern, selbstbestimmt und selbstbewusst. Die Befreiung der Frau aus den traditionellen patriarchalen Strukturen in der Region ist eines der wichtigsten Anliegen der Revolution, die den Norden Syriens in den vergangenen Jahren umgewälzt hat.

Jetzt aber ist Jinwar in seiner Existenz bedroht und mit ihm all das, was Kurden gemeinsam mit progressiven Arabern und Aramäern aufgebaut haben. Die bereits mehrfach angedrohte Invasion der türkischen Armee scheint unmittelbar bevorzustehen. Die USA haben angekündigt, einem Einmarsch nicht im Wege zu stehen und ihre im Norden Syriens stationierten Truppen abzuziehen.

Erdogan will kurdische Autonomie um jeden Preis verhindern

In der Nacht zu Montag verschickte das Weiße Haus eine dürre Pressemitteilung. Wohl selten wurde ein Verrat mit derart klinischen Worten angekündigt. Die US-Streitkräfte würden eine türkische Militäroperation nicht unterstützen oder in sie involviert sein, und die Streitkräfte würden die Region nach ihrem Sieg über das IS-Kalifat verlassen, hieß es in der Mitteilung.

Was das Weiße Haus unterschlägt: Wesentlich zur Zerschlagung des Terror-Kalifats haben die kurdisch dominierten Streitkräfte Syriens (SDF) beigetragen, die bislang als engster Verbündeter des Westens in der Region galten. Für den Nato-Partner Türkei sind die kurdischen Milizen YPG und YPJ allerdings Terror-Organisationen. Ankara wirft ihnen vor, das syrische Pendant zur kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Ein kurdisches Autonomiegebiet unter Kontrolle dieser Milizen will die Türkei verhindern, weswegen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder einen Einmarsch androhte.

2018 eroberte die Türkei Afrin

Dass dies keine leeren Drohungen sind, zeigte sich Anfang vergangenen Jahres, als die türkische Armee gemeinsam mit verbündeten islamistischen Milizen in die Region Afrin im Nordwesten Syriens einfiel und dort ein Besatzungsregime errichtete. Die Besatzung ist geprägt von schweren Menschenrechtsverletzungen, willkürlichen Hinrichtungen, Entführungen, Vertreibungen und der Auslöschung der kurdischen Identität der Region.

Jetzt haben sich zum Angriff auf die weiter östlich gelegenen hauptsächlich von Kurden bewohnten Gebiete die von der Türkei unterstützten syrischen Milizen-Bündnisse Syrische Nationalarmee (SNA) und die Nationale Befreiungsfront (NFL) zusammengeschlossen, in deren Reihen nahezu ausschließlich Islamisten und Salafisten kämpfen. Die Türkei hat an der Grenze Panzer und Artilleriegeschütze zusammengezogen. Erdogan hat bereits angekündigt, in den kurdischen Siedlungsgebieten zwei Millionen arabisch-syrische Flüchtlinge ansiedeln zu wollen, die derzeit noch in der Türkei leben.

Der Westen schaut weg

Von den Nato-Partnern der Türkei ist wenig Widerstand gegen die bevorstehende Invasion zu erwarten. Zwar warnte die Bundesregierung pflichtgemäß vor einer „weiteren Eskalation in Syrien“, tatsächlich wird sie sich einem Einmarsch nicht entgegenstellen. Auch in Afrin hat Berlin lediglich zugeschaut, wie Leopard-2-Panzer aus deutscher Produktion in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg involviert waren. Die Bundesregierung hat sich mit dem Flüchtlingspakt erpressbar gemacht und ist handlungsunfähig, ähnliches gilt für sämtliche EU-Länder. In jeder europäischen Hauptstadt ist die Angst gewaltig, ein Szenario wie 2015 könne sich wiederholen.

In den USA kämpft ein erratischer, außenpolitischer Naivling innenpolitisch um seine Macht. Für Donald Trump ist der Rückzug der US-Truppen lediglich der Versuch, sich die kriegsmüde öffentliche Meinung in den USA wohlgesonnen zu machen. Hatte er der Türkei noch im Dezember mit wirtschaftlicher Vernichtung gedroht, sollte sie die mit den USA verbündeten Kurden angreifen, lässt er Ankara jetzt freie Bahn, und das gegen den erklärten Rat seiner Generäle und Außenpolitiker.

Wiederholter Verrat an den Kurden

Für die syrischen Kurden ist der Zug des US-Präsidenten ein Schock. Ihnen seien von den USA Sicherheiten versprochen worden, die YPG und YPJ hatten sich bereits darauf eingelassen, aus bestimmten grenznahen Bereichen abzuziehen. Dass Washington der Türkei nun freie Hand gibt, empfinden sie als „Dolchstoß“, wie ein Sprecher der Demokratischen Streitkräfte Syriens sagte. Die Kurden müssen einmal mehr die bittere Erfahrung machen, dass auf den Westen kein Verlass ist. Wie in Afrin, wie 1991, als die USA die irakischen Kurden zum Aufstand gegen Saddam Hussein animierten und sie dann im Stich ließen, als der Diktator ihre Revolte zusammenschießen ließ.

Nun ist Moral keine Währung, mit der Nationen in ihrer Außenpolitik zahlen. Es geht stets um Interessen. Doch auch ganz nüchtern betrachtet ist der Verrat des Westens an den Kurden töricht. Ein von islamistischen Kräften sekundierter türkischer Einmarsch in Nord-Syrien wird den Feinden des Westens in die Karten spielen.

Türkischer Einmarsch destabilisiert die Region

Der, anders als es Donald Trump verkündet, noch längst nicht besiegte sogenannte „Islamische Staat“ hat in den vergangenen Wochen immer wieder bewiesen, dass seine Milizionäre zu koordinierten militärischen Operationen in der Lage ist. Die Kurden werden zur Verteidigung ihrer Heimat Kräfte abziehen müssen, die derzeit noch die diversen Gefängnisse und Lager bewachen, in denen insgesamt rund 100.000 IS-Gefangene inhaftiert sind, darunter Tausende brandgefährliche Ausländer. IS-Anführer Abu Bakr al Baghdadi hatte in seiner jüngsten Audio-Botschaft zur Befreiung dieser Gefangenen aufgerufen. Fiele ein Lager wie Al Hol im Südosten Syriens, in dem allein 70.000 teils ultraradikale Angehörige von IS-Kämpfern untergebracht sind, in die Hände des IS, würde das der Terrororganisation propagandistisch wie militärisch einen enormen Aufschwung geben – womit sich auch die Sicherheitslage in Europa drastisch verschlechtern würde.

Zweitens bleibt den Kurden in der derzeitigen Situation keine andere Wahl, als sich dem syrischen Regime und damit auch dessen Verbündeten Russland und Iran anzunähern. In den vergangenen Jahren war dieses Verhältnis trotz der brutalen Unterdrückung der Kurden durch das Assad-Regime in der Zeit vor dem Ausbruch des Krieges von Pragmatismus geprägt.

Es gab eine Art militärisches Stillhalteabkommen und wirtschaftliche Beziehungen. Kommt es nun zu einer weitergehenden Kooperation, gar einem gemeinsamen militärischen Vorgehen, wird das die Position Assads stärken und damit auch den iranischen Einfluss in der Region zementieren – samt der damit verbundenen wachsenden Bedrohung Israels. Die Selbstverwaltungsstrukturen hätten dann zwar keine Zukunft mehr, es gäbe aber zumindest die Chance, dass ein Bevölkerungsaustausch, wie ihn Erdogan derzeit plant, vermieden würde, und die Kurden perspektivisch in ihren Siedlungsgebieten bleiben könnten.

Kurden militärisch chancenlos

Drittens wird ein türkischer Angriff eine erneute Flüchtlingswelle auslösen. Bereits der Angriff auf die kurdische Enklave Afrin Anfang vergangenen Jahres trieb bis zu 120.000 Menschen in die Flucht. Diesmal werden sich deutlich mehr Menschen zu retten versuchen, ihr Ziel wird die kurdische Autonomieregion im benachbarten Irak sein. Dort leben bereits Hunderttausende Flüchtlinge, teils syrische Kurden, teils irakische Binnenflüchtlinge aus der Zeit der IS-Terrorherrschaft. Die irakische Kurdenregion mit ihren ursprünglich fünf Millionen Einwohnern gilt noch als ein Hort der Stabilität in einer unruhigen Region. Das könnte sich ändern, wenn die Aufnahmekapazitäten Irakisch-Kurdistans überdehnt werden.

Die syrischen Kurden und ihre Verbündeten bereiten sich jetzt auf den türkischen Angriff vor. Sie werden ihm nicht viel entgegensetzen können, trotz aller Kampferfahrung, die sie in den vergangenen Jahren gesammelt haben. Ihnen fehlt schweres Gerät und eine Luftwaffe. In Jinwar, dem Dorf der freien Frauen an der Grenze, hatte Nudschin, eine Deutsche, die dort lebt, bereits vor einem Jahr gesagt: „Es kann sein, dass es uns bald nicht mehr gibt. Aber hier gibt es unglaublich viel Hoffnung.“ Diese Hoffnung stirbt jetzt.

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