Separatismus - Die Erschütterung Europas

Nach dem Brexit verdeutlicht nun die Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens die Risse in unserer Gesellschaft. Auf die Globalisierung reagieren die Menschen mit einem radikalen Regionalismus, vom Staat und der Staatengemeinschaft wenden sie sich ab. Kann ein junger Staatschef das kitten?

Anhänger der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung: „Ich träume auf Katalanisch“ / picture alliance
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„Drehend und drehend in immer weiteren Kreisen, hört der Falke seinen Falkner nicht; Alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr; Und losgelassen nackte Anarchie, und losgelassen blutgetrübte Flut, und überall ertränkt das strenge Spiel der Unschuld; Die Besten haben keine Überzeugung mehr, die Schlimmsten sind von Kraft der Leidenschaft erfüllt.“ Der irische Dichter und Nobelspreisträger William Butler Yeats schrieb diese Zeilen 1919. Der erste Weltkrieg war gerade zuende gegangen, Yeats selbst hatte hautnah erlebt wie der irische Bürgerkrieg 1916 blutig niedergeschlagen wurde und sah nun aus der Ferne zu, wie die Bolschewiken das Zarenreich Russland auseinanderrissen. All das weckte in ihm ein beunruhigtes und beunruhigendes Gefühl von unumkehrbarer Veränderung.

Der Doppelschlag gegen die EU

Natürlich ist ein Vergleich zur heutigen Situation auf den ersten Blick absurd. In Europa gibt es weder einen Welt-, noch einen Bürgerkrieg. Aber doch treten die Risse in der Gesellschaft immer deutlicher hervor. In fast allen westlichen Ländern gewinnen die Parteien am Rand des politischen Spektrums immer mehr Anteile der Stimmen und vergrößern so den Spalt zwischen denen, die ein offenes Staatssystem wollen, und denen, die es verschließen möchten. Die Nationen zerbröseln in regionale Gemeinschaften und die Löcher in der Europäischen Union, jenem Bollwerk für Sicherheit und Stabilität, lassen sich kaum noch zudecken. Der Brexit und jetzt die katalanische Unabhängigkeitsbewegung haben der Union so etwas wie einen zeitversetzten Doppelschlag versetzt. Um sich vor Augen zu führen, wie gefährlich die Situation in Spanien gerade ist, sei an Jugoslawien nach 1989 erinnert: Es dauerte nur zwei Jahre und das Land hatte sich vom Strandbad zum Schlachtfeld gewandelt.

Das zerreißende Zentrum ist kein rein europäisches Problem. Im Nahen Osten ist kaum noch ein verbindendes Element erkennbar. Die Kurden im Nordirak haben gerade ihr eigenes Unabhängigkeitsreferendum abgehalten, was einen weiteren Krieg in der explosiven Region nach sich ziehen könnte. Gleichzeitig zieht es die Kurden in der Türkei und im Iran immer stärker weg vom ungeliebten Staat, in Syrien haben sie mit der Royava-Region schon de facto einen eigenen Staat geschaffen. Sezessionsbewegungen gibt es auf fast jedem Kontinent, in Kamerun und Nigeria, in Tibet und Myanmar, in Brasilien und nicht zuletzt in der Ukraine und Georgien.

Die vierte große Erschütterung

Der US-amerikanische Journalist Josh Feffer teilt die moderne Geschichte Europas auf in drei große Erschütterungen. Die erste war das Konzept der Nation, das die großen Reiche der Hohenzollern, der Habsburger, der Romanows und der Ottomanen letztlich mit der Explosion des Ersten Weltkriegs aus der Geschichte katapultierte. Die zweite Erschütterung war der Kollaps der Kolonialreiche, der auf der ganzen Welt neue, mehr oder weniger unabhängige Staaten entstehen ließ. Die dritte Erschütterung war das Ende des Kommunismus, aus dem 20 neue Mitglieder der Vereinten Nationen entstanden (zuvor war in 50 Jahren nur Bangladesch hinzugekommen). Wenn jetzt die Nationalstaaten auseinanderbrechen, liegt der Gedanke nicht fern, dass wir gerade die vierte große Erschütterung erleben. Wahrscheinlich kommen uns deswegen die Zeilen von Yeats, dem Zeugen der ersten, so unheimlich bekannt vor.

Die EU zumindest kommt aus der Krise nicht heraus. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung verliert sie an Gebiet. Bis zum Brexit konnte sie kontinuierlich expandieren, von 6 Mitgliedstaaten 1957 wuchs sie an zu heute 28. Sollte neben Großbritannien auch Katalonien austreten, würde die EU mehr als ein Fünftel ihrer Wirtschaftskraft verlieren. Dazu sind im Bereich des Möglichen: Ein Tschexit, nachdem ein rechter Milliardär zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und nun offenbar eine Koalition mit einer Anti-EU-Partei bilden wird. Ein Nexit, wenn es Geert Wilders gelingt, in den Niederlanden seine Wählerbasis zu vergößern. Und ein Italexit, da mittlerweile 57 Prozent der Italiener ein Referendum über den EU-Verbleib abhalten wollen. Selbst in EU-freundlichen Ländern wie Deutschland und Österreich gewinnen Kritiker an Zulauf. Die AfD gewann in Deutschland 12 Prozent der Wählerstimmen, die FPÖ wird mit großer Wahrscheinlichkeit jenseits der Alpen an die Macht kommen.

Die schwache Mitte

Doch nicht nur im Innern drücken Staaten  die EU von sich weg, auch von außen wird an ihr gezerrt. Der Kremlin unter Wladimir Putin freut sich über eine schwache EU und auch der US-Präsident Donald Trump hat die Euroskeptiker umarmt, um, in den Worten seines ehemaligen Beraters Steve Bannon, „die Dekonstruktion des administrativen Staates“ zu fördern.

Die wichtigste Kraft, die die Union überhaupt erst hat entstanden lassen und bisher ihr Überleben gesichert hat, war die Kraft der Mitte. Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien in den Mitgliedsländern traten stets als Verteidiger der Union auf. Ist also die Mitte zu schwach geworden, um das Zentrum halten zu können?

Man könnte auch sagen, sie hat sich schwach gemacht. Die Regierungen vieler europäischer Staaten unterstützten die Kriege der USA im Nahen Osten – in Afghanistan, Irak und Syrien – oder initiierten sie sogar wie in Libyen. Diese Kriege, wie humanistisch auch ihre Ziele gewesen mögen, haben das dünne Klebeband, das den Nahen Osten zusammenhielt, vollends zerrissen und dazu geführt, dass hunderttausende Flüchtlinge nach Europa kamen. Daraus folgte in Europa ein Anstieg von Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, die wiederum die sogenannten rechtspopulistischen Parteien befeuerten. Mit dem Ergebnis, dass fast überall in Europa nun ein Echo der zerberstenden Staaten des Nahen Ostens hallt.

Für wen ist der Staat da?

Doch damit einher geht etwas, das schwieriger zu greifen ist. Und das hat mit der Idee des Staates zu tun und der Frage: Wofür, oder besser, für wen ist der Staat eigentlich da? Die moderne Nation, so wie sich jetzt darstellt, ist ein Instrument, das in den Dienst einer bestimmten politischen Ökonomie gestellt wird. Sie bietet den industrialisierten Gesellschaften einen demokratischen Überbau und das Kapital, das sie antreibt. So weit, so rational, so gut. Doch zu diesem Zweck ist in den Staaten zu viel abhanden gekommen, und in ihrem Verbund, der Europäischen Union, hat sich dieser Verlust potenziert. Brüssel ist den Menschen zu abstrakt, und wenn sich dort zahlreiche Beamte redlich darum bemühen, Produkte weniger gesundheitsgefährdend zu machen, kommt das am Ende so an, als wollten die Bürokraten in ihrer Regulierungswut auch dem Italiener vorschreiben, wie er seine Pizza zu backen hat.

Hinter dem Staat steht die Überlegung, „was funktioniert am effizientesten?“, und nicht „so wollen die Menschen leben und damit können sie sich identifizieren“. Und Identifikation funktioniert offenbar immer noch am besten über die Sprache und das gemeinsame Gedächtnis, auch wenn viele Traditionen eher in der Vorstellung überliefert sind als in der Realität. Das fängt schon damit an, dass ein Norddeutscher mit dem Karneval meist so gut wie nichts anfangen kann.

Gegenreaktion auf die Globalisierung

In vielerlei Hinsicht ist die Wiederbelebung des Regionalen eine Reaktion auf die Globalisierung und den damit einhergehenden Kosmopolitismus. Während eine Globalkultur sich, angefeuert von neoliberalen Kräften, rasend schnell verbreitet, verwischt sie gleichzeitig jede Form der Identität. Doch das ruft bei den meisten Menschen eben eine heftige Umklammerung des Gegenteils hervor. Als Zukunft wollen die Menschen die Vergangenheit.

„Ich träume auf Katalanisch“, sagte einer der Demonstranten für ein unabhängiges Katalonien, und wer mag es ihm verdenken? Wer kann es Menschen einer Region, einer gewachsenen Gemeinschaft, verdenken, wenn sie sich wünschen, dass sie so bleibt, wie sie ist und wie die Bewohner sie lieben?

Doch auch dieses Denken hat seine Schattenseite. Denn indem die Menschen sich von der Gemeinschaft abwenden, sei es die einer Nation oder die von vielen Nationen wie der Europäischen Union, wenden sie sich auch ab von Zielen, die den meisten Menschen gemeinsam sind. Denn trotz des möglichen Missbrauchs des Gewaltmonopols und all seiner bürokratischen Mängel ist der Staat nach wie vor die beste Möglichkeit, die Umwelt zu schützen, ein soziales Sicherheitsnetz bereitzustellen und möglichst vielen gerechte Bildungschancen zu bieten. Ganz zu schweigen von seiner Fähigkeit, sich mit anderen Staaten zu verbinden, um globale Probleme wie den Klimawandel, Terrorismus oder Pandemien anzugehen.

Passt Merkels Stil noch in die Zeit?

Wie lässt sich also diese vierte große Erschütterung überstehen, wie lässt sich die Mitte halten, an der von allen Seiten so starke Kräfte ziehen? Lange galt Angela Merkel als Inbegriff der Stabilität, als personifizierte Rationalität in einer immer verrückter werdenden Welt. Doch passt ihr Politikstil der bürokratisierten Konfliktvermeidung noch in die Zeit? Wie Alexander Grau geschrieben hat, sind politische Probleme für Merkel dysfunktionale Zustände, die im Rahmen des gesetzlich Vorgegebenen seriell abzuarbeiten und aufzulösen sind. Aber gerade jetzt, in Katalonien und anderswo, wird die Politik von Gefühlen gesteuert, von Leidenschaften und Ressentiments. Und damit kann die Kanzlerin im Grunde nichts anfangen.

Doch während, um auf Yeats zurückzukommen, die Schlimmsten von der Kraft der Leidenschaft erfüllt sind, gibt es in dieser vierten Erschütterung der europäischen Welt einen, der sich ihnen entgegenstellen kann. Einen, der den Mittelweg nicht langweilig und veraltet erscheinen lässt, sondern voller Leben, dringend, radikal und sogar glamourös. Die Rede ist von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Sein radikaler Zentrismus ließ sich erleben in seinen beiden Reden zur Europäischen Union. Mehr aber noch in einem eineinhalbstündigen Interview im französischen Fernsehen.

Macrons Kampf gegen den Fanatismus

Es waren mit ungeheurer Vehemenz vorgetragene Tiraden gegen die Stumpfheit jeder Form des Fanatismus, sei er religiös, sozial oder sonstwie geraten. Dagegen schlug Macron sich wie die Hollywood-Version eines Anwalts für die Kraft des Möglichen in die Bresche, fest dazu entschlossen, eine Gesellschaft so zu verändern, dass es tatsächlich funktioniert – und nicht auf die Art, die im Fernsehen und bei Wahlveranstaltungen gut klingt, auf dem Boden der Tatsachen aber versagt und dort nur wieder Fanatismus produziert. Nur wenige Politiker sind in der Lage, den gesunden Menschenverstand so zu formulieren, dass er wie eine große Vision klingt. Vom Erhabenen zur Lächerlichkeit ist es nur ein Schritt, sagte ein anderer französischer Staatschef einst. Und von Helmut Schmidt wissen wir, dass er zum Arzt ging, wenn er Visionen hatte. Schön und gut. Doch nicht nur in Spanien liegt die Welt, wie wir sie kennen, auf der Intensivstation.

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