Saudi-Arabien - Endspiel am Golf

Saudi-Arabiens König hat seinen Lieblingssohn Mohammed bin Salman zum Ersten Kronprinzen befördert. Das kommt einem Regierungsumsturz gleich. Der Sunnitenstaat wird zu einer immer größeren Gefahr für die gesamte Region – und ist selbst höchst instabil

Erschienen in Ausgabe
Fortan werden statt einer Gruppe führender Prinzen nur noch einer bis zwei herrschen / Illustration: Simon Prades
Anzeige

Autoreninfo

Wilfried Buchta ist promovierter Islamwissenschaftler. Von 2005 bis 2011 arbeitete er in Bagdad als politischer Analyst (Senior Political Affairs Officer) für die UNO-Mission im Irak. Als Zeitzeuge hat der ausgewiesene Kenner der Region und ihrer Geschichte die politischen Ereignisse, die zum Erstarken des »Islamischen Staates« geführt haben, täglich hautnah miterlebt. Sein neuestes Buch heißt „Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt“ (Hanser Berlin).

So erreichen Sie Wilfried Buchta:

Anzeige

Am 20. Juni 2017 verfügte Saudi-Arabiens König Salman per Dekret einen Wechsel der Thronfolge. Damit wurde der bisherige Kronprinz und Innenminister, Mohammed bin Naif, seiner beiden Posten enthoben und Salmans 31-jähriger Lieblingssohn, Mohammed bin Salman (im Lande meist bekannt unter seinem Kürzel: MBS), vom stellvertretenden zum Ersten Kronprinzen befördert: eine enorme Aufwertung von MBS, dem sein Vater zuvor schon die Posten des Verteidigungsministers und Leiters des Wirtschaftsrats übertragen hatte, der die wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung des Landes bestimmt.

Lautloser Regierungsumstoß

Salmans Schritt kam einem lautlosen Regierungsumsturz gleich, zumal er durch ihn das politische System des Landes von Grund auf umgestaltete, das der Staatsgründer aus der Saud-Dynastie, König Abd al Aziz, 1932 ins Leben gerufen hatte. Bekanntlich hatte Abd al Aziz mit mehr als einem Dutzend Ehefrauen mehr als 60 Kinder gezeugt. Daher war nach seinem Tod 1953 die einvernehmliche Regelung der Frage, welcher seiner vielen Söhne aus welcher Familienlinie den Thron besteigen sollte, stets überlebenswichtig für den Fortbestand von Staat und innerem Frieden.

Doch ungeachtet gegenseitiger Machtrivalitäten konnten die ältesten Söhne des Staatsgründers immer wieder einen Konsens über die Thronfolge aushandeln. Dieser Konsens, fußend auf komplizierten Entscheidungsmechanismen innerhalb der weitverzweigten Machtoligarchie des Saud-Clans mit seinen 7000 Prinzen und den mit ihr verbündeten Stämmen, bildete quasi die Raison d’être des Königreichs. Er ermöglichte, dass im Wechsel jeweils ein Vertreter einer bestimmten Familienlinie den Königsthron bestieg und dieser sich die Macht in einer Art informellem Konsens mit anderen potenziellen Thronprätendenten teilte, die wichtige Staatsämter erhielten.

Salmans Dekret brach mit dieser Tradition: Fortan werden anstelle einer Gruppe von mindestens einem Dutzend einflussreicher führender Prinzen nur noch einer bis zwei herrschen, die aus der Familie Salmans stammen. Hauptnutznießer ist der als ehrgeiziger Machtmensch und impulsiver Reformer geltende MBS.

Entscheidungen folgen Schlag auf Schlag

Durch die Ausschaltung von Mohammed bin Naif, der als Innenminister mehrere Sicherheitsdienste kontrollierte und dadurch im Saud-Clan als Rivale und Gegenmacht zu seinem jüngeren Vetter MBS wirkte, stieg Letzterer zum fast unumschränkten Herrscher des Königreichs auf. Das gilt umso mehr, als der 81-jährige König Salman bei schwacher Gesundheit ist und MBS wiederum den Zugang zu seinem Vater regelt. Um sich gegen Palast-Coups heimlicher Verbündeter von Mohammed bin Naif abzusichern, ließ MBS ihn nur eine Woche nach dessen Entmachtung im eigenen Palast unter Hausarrest stellen – ein präzedenzloser Bruch mit der im Herrscherhaus bis dahin gültigen Tradition des gegenseitigen Respekts und der Machtausübung im Konsens.

Der Machtzuwachs von MBS ist der bisherige Höhepunkt eines rapiden, vor zwei Jahren begonnenen Umbaus der verkrusteten Staatsstrukturen. Schlag auf Schlag setzten seither Salman und sein Sohn ihre Entscheidungen gegenüber dem Rest der Herrscherfamilie immer rascher und rücksichtsloser durch.

Die Folge: Es kam Schwung in den trägen Regierungsbetrieb, der an Effektivität gewann. Zugleich wurden Saudi-Arabiens Innen- und Außenpolitik durch neue Initiativen immer unkalkulierbarer, zumal MBS als treibende Kraft weitgehend freie Hand erhielt, aber keine Regierungserfahrung hat. Seit Anfang 2015, als er zum dominierenden Akteur der saudischen Politik aufstieg, brachte er die Wirtschaftspolitik auf Reformkurs. Damit nicht genug: Er setzte aggressive nationalistische Akzente in der Außenpolitik, die seit den 1950er-Jahren durch bedächtiges, auf Ausgleich und auf Erhaltung des Status quo am Golf erpichtes Taktieren sowie strikten Nichtinterventionismus geprägt war. 

Außenpolitisch selbstbewusst

Wie aggressiv und selbstbewusst der neue Ton in Riads Außenpolitik geworden ist, lässt sich gut an der antiiranischen, seit 2015 immer konfrontativeren Rhetorik ablesen. In ihr spiegelt sich die Rivalität zwischen Saudi-Arabien, der Führungsmacht der Sunniten, und dem Iran, der traditionellen Schutzmacht der Schiiten. Aus dem harten Ringen der beiden Länder um die Vormacht in Nahost ist schon längst ein sunnitisch-schiitischer Hegemonialkonflikt geworden, in dem jede Seite zahlreiche regionale Stellvertreter finanziell, politisch und mit Waffenlieferungen unterstützt – in Syrien, dem Irak, dem Libanon, Jemen, Afghanistan und Pakistan.

Das iranische Regime hat jedoch seit 2003 beständig an Einfluss gewonnen. So kamen im Irak nach der US-Invasion von 2003 die bis dato von Saddam Hussein unterdrückten Oppositionsparteien der Schiiten (der Bevölkerungsmehrheit des Irak) durch demokratische Wahlen an die Regierung. Das nutzte dem Iran als altem Freund dieser Schiitenparteien am meisten und verhalf Teheran dazu, nach dem US-Truppenabzug 2011 zum bestimmenden ausländischen Akteur im Irak aufzusteigen. Ähnlich stark wuchs nach Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 auch Teherans Einfluss in Syrien. Dort bewahrt Teheran das alawitische Regime unter Baschar al Assad mit jährlich bis zu sechs Milliarden US-Dollar nicht nur vor dem Finanzkollaps, sondern durch die Entsendung iranischer Revolutionsgarden und durch 15 000 schiitische Milizionäre aus Afghanistan und Irak auch vor der militärischen Niederlage.

Ohne den Iran läuft nichts mehr

Auch im Libanon, wo Teheran seit 1982 in der proiranischen schiitischen Hisbollah einen engen Verbündeten hat, läuft heute gegen den Willen des Iran politisch nichts mehr. All das nährte Ängste in Riad, die noch wuchsen, als 2012 im Jemen der Bürgerkrieg zwischen den schiitischen Huthi-Rebellen im Norden des Landes und der prosaudischen Regierung von Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi ausbrach und der Iran die Huthis zu unterstützen begann. Fortan steigerte sich die Angst Riads vor einer Einkreisung durch den Iran zu einer Obsession. 

Auf Initiative des neuen Verteidigungsministers MBS holte Riad im März 2015 zu einem militärischen Befreiungsschlag aus, initiierte die Gründung einer von Saudi-Arabien geführten Militärallianz sunnitischer Staaten und zog aufseiten des ins Exil geflohenen Präsidenten Hadi in den Krieg gegen die Huthi-Rebellen. Doch bislang scheiterten alle Versuche Riads, die Huthi-Rebellen militärisch zu schwächen. Der Krieg Riads geriet zu einem Fiasko. Schlimmer noch: Er stürzte das ärmste Land der arabischen Welt vollends in eine wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe, machte vier Millionen Einwohner Jemens zu Binnenflüchtlingen, zerstörte mehr als die Hälfte der Strom- und Trinkwasserversorgung und führte zum Ausbruch einer Cholera-Epidemie mit 200 000 Erkrankten. Dieser aussichtslose Krieg wird für Saudi-Arabien nicht nur wegen des großen Imageschadens in der islamischen Welt, sondern auch finanziell zu einer immer drückenderen Last.

Katar kann Forderungen nicht annehmen

Eine ähnlich schwere und folgenreiche außenpolitische Bürde lastete MBS dem Königreich mit der von ihm Anfang Juni 2017 initiierten Krise um Katar auf. Sie begann, als Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Bahrain überraschend alle Verbindungen zu Lande, Wasser und in der Luft zu dem kleinen Golfemirat kappten. Das Ziel der vier Staaten: Katar soll sich ­Riads kompromisslosem antiiranischen Kurs anschließen und seine eigenständige Außenpolitik mit relativ engen Beziehungen zum Iran aufgeben. Das rücksichtslose Vorgehen der Saudis und ihrer Verbündeten droht die ohnehin schwache Regional­organisation des Golfkooperationsrats vollends zu lähmen und den gemeinsamen Kampf gegen den „Islamischen Staat“ zu behindern.

Katar kann die maßlosen Forderungen der Saudis und ihrer Verbündeten nicht annehmen, zumal Katars märchenhafter Reichtum gänzlich auf der Ausbeutung gewaltiger, mit dem Iran geteilter Erdgasfelder im Persischen Golf beruht. Allerdings wurde Katar somit politisch nur noch mehr in die Arme Teherans getrieben, das sich eiligst erbot, Doha mit Nahrungsmitteln zu versorgen und seinen Luftraum für Katars Fracht- und Passagierflüge zu öffnen. Der schon lange schwelende Antagonismus zwischen Riad und Doha, die in Palästina, Syrien und Libyen jeweils gegnerische Kräfte unterstützen, hat sich nun zementiert. Hauptnutznießer dieser Spaltung des sunnitischen Lagers sind der Iran und der IS.

Viele junge Saudis sind pro MBS

In Saudi-Arabien selbst erfährt MBS derzeit noch beträchtliche Zustimmung, und zwar nicht nur unter den Medien, die seine Kritiker verdammen, sondern vor allem bei vielen jungen Saudis. Sie sehen ihn als einen Vertreter ihrer Generation und feiern MBS als energischen Macher. Für sie ist er ein Erneuerer, der Wirtschaftsreformen in Gang bringt und sich gegen die konservativen Bedenkenträger in der Wirtschaftselite, am saudischen Hof oder bei den mächtigen erzreaktionären wahhabitischen Geistlichen durchsetzt. Tatsächlich konnte MBS behutsame Öffnungen in der Gesellschaft erwirken und die Machtkompetenzen der berüchtigten Religionspolizei einschränken.

Ob MBS sich jedoch die Sympathien der Jugend auf Dauer sichern kann, hängt vom Erfolg seines ökonomischen Reformplans „Vision 2030“ ab. Auf dessen Grundlage will MBS die Wirtschaft Saudi-Arabiens radikal modernisieren und sie bis 2050 aus der Abhängigkeit von den bisher alles bestimmenden Erdöleinnahmen führen. So sollen insbesondere die durch den Verfall des Ölpreises stark gesunkenen Staatseinnahmen konsolidiert werden. Auch müssen dringend Arbeitsplätze für die rasant wachsende Bevölkerung geschaffen werden. Weil im Land keine Steuern erhoben werden, die meisten Saudis beim Staat arbeiten (2015 immerhin 72 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung), Bildung und Gesundheitsversorgung kostenlos sind und der Verbrauch von Energie und Wasser bisher massiv subventioniert wurde, zwingt der niedrige Ölpreis zu raschen und harten Reformen.

Perspektivlosigkeit befeuert dschihadistische Gruppen

Doch ist dieser Weg des Wandels durch Rückbau des Sozialstaats mit hohen Risiken verbunden. Denn jeder Versuch, eine vergleichsweise liberale Ordnung zu schaffen, dürfte in der saudischen Gesellschaft Streit auslösen und Widerstandskräfte mobilisieren. Gefahr droht vor allem durch den wahhabitischen Staatsklerus, der um seine Machtprivilegien fürchtet, sowie vonseiten ärmerer Bevölkerungsgruppen und auch der rasch wachsenden saudischen Jugend (47 Prozent der Einwohner sind jünger als 24 Jahre).

Viele Jugendliche haben nur ein geringes Ausbildungsniveau, und ihre Ambitionen auf Weiterbildung sind wegen der bisher gewährten Arbeitsplatzgarantie in der staatlichen Verwaltung gering. Sollten derlei Privilegien künftig entfallen, wird das gesellschaftliche Unruhepotenzial zwangsläufig wachsen. Das dürfte den Zulauf zu dschihadistischen Gruppen wie Al Qaida und IS befeuern, die bereits jetzt Jahr für Jahr mehrere Tausend saudische Kämpfer in Syrien und im Irak in ihren Reihen aufnehmen.

Seit 2014 hat sich der IS als Feind des saudischen Königreichs positioniert und fordert seine örtlichen Anhänger dazu auf, die saudische Monarchie zu stürzen; mehrere Tausend saudische Jugendliche sind offenbar in Untergrundzellen organisiert. Wiederholt kam es 2016 und 2017 zu nur knapp vereitelten Bombenanschlägen saudischer IS-Dschihadisten auf die heiligen islamischen Stätten in Mekka und Medina – wären sie geglückt, hätten sie das Vertrauen des Volkes ins saudische Königshaus schwerstens erschüttert und dessen Machtlegitimität untergraben. 

MBS spielt mit dem Feuer

Entscheidend ist die Frage, ob MBS mit seiner „Vision 2030“ Erfolg haben kann. Das ist schwer vorherzusagen. Doch tun sich zumindest fatale Parallelen auf, insbesondere zu dem von Hybris und Wunschdenken angetriebenen, überehrgeizigen Industrialisierungsprogramm des Schahs im Iran. Der hatte in den 1970er-Jahren sein Land, das größtenteils noch agrarisch und religiös-traditionalistisch geprägt war, mit Brachialmethoden modernisieren wollen. Bekanntlich entfesselte er dabei einen Dämon: den radikalisierten schiitischen Klerus unter Ajatollah Khomeini, welcher ihn schließlich stürzen sollte.

Ein Gelingen der „Vision 2030“ setzt Riad aber auch durch die beiden selbst verschuldeten und ausweglosen Krisen im Jemen und in Katar sowie durch die Konflikteskalation mit dem Iran aufs Spiel, die unkalkulierbare Risiken für die Stabilität in der gesamten Region bedeuten.

MBS spielt also mit dem Feuer. Allein schon wegen der Bedeutung, die Saudi-Arabien als größter globaler Ölproduzent für die Weltwirtschaft hat, kann das den Westen unmöglich kaltlassen.

 

Die Augustausgabe des Cicero erhalten Sie unserem Online-Shop.

 

 

 

 

 

 

Anzeige