Russland und die EU - Brisante Vertrauenskrise

Noch nie waren die Beziehungen zwischen der EU und Russland so schlecht wie jetzt. Und die Entführung eines Ryanair-Flugzeugs durch den weißrussischen Präsidenten verschärft die Lage noch weiter – denn Lukaschenko ist ein treuer Vasall Putins. Doch auch die Russen fühlen sich in der Defensive. Eine gefährliche Eskalation.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow am Montag mit Portugals Außenminister Augusto Santos Silva / dpa
Anzeige

Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

So erreichen Sie George Friedman:

Anzeige

Russland und die Europäische Union haben eine Konferenz abgehalten, bei der der russische Außenminister Sergej Lawrow in einer Rede sagte: „Die Situation bleibt ziemlich alarmierend. Unser gemeinsamer europäischer Kontinent erlebt eine noch nie dagewesene Krise des Vertrauens. In Europa entstehen wieder Trennlinien. Sie verschieben sich nach Osten und werden tiefer, als wären es Frontgräben.“

Das sind keine trivialen Punkte, und sie entsprechen auch nicht dem übliche verbalen Geplänkel auf internationalen Konferenzen. Sie spiegeln vielmehr die russische Realität wider, und wie schon früher in der Geschichte unterscheidet sie sich von der europäischen und amerikanischen Sicht der Dinge.

Die russische Perspektive

Das Ordnungsprinzip der russischen Perspektive lässt sich am besten verstehen, wenn man bedenkt, was Präsident Wladimir Putin vor Jahren sagte: dass nämlich der Zusammenbruch der Sowjetunion eine Katastrophe für Russland war – nicht der Zusammenbruch des Kommunismus, wohlgemerkt, sondern die Zersplitterung der Sowjetunion, deren Kern in der Zarenzeit geschmiedet worden war und der Russland vor Invasionen schützte.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion zersplitterte deren westlichste Ausläufer, die Europa zugewandt sind. Weißrussland, die Ukraine und Moldawien wurden unabhängig, und die Grenze Russlands verschob sich dramatisch nach Osten. Einerseits konnte Russland wenig dagegen tun. Auf der anderen Seite konnte Russland mit dem Verlust leben, solange die Europäer und Amerikaner die Region nicht kontrollierten. Eine Pufferzone konnte genügen, die wirklich russisch geprägte oder zumindest neutrale Regierungen erforderte. Vom Westen dominierte Regierungen waren aus russischer Sicht gefährlich.

Das Gleichgewicht gerät durcheinander

Die ukrainische Revolution von 2014 brachte das Gleichgewicht durcheinander, indem sie einen pro-russischen Präsidenten durch eine solide pro-westliche Regierung ersetzte. Putin betrachtete dies als einen von den USA inszenierten Putsch und versuchte, die Kontrolle über den östlichen Teil der Ukraine, der an Russland grenzt, zu behalten.

Es entstanden drei Perspektiven. Die US-Perspektive war, dass die Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung hat. Die russische Perspektive sah so aus, dass dies das Ergebnis einer verdeckten Aktion war. Die europäische Perspektive war klassisch europäisch, da es ungefähr so viele Meinungen gab, wie es Länder in Europa gibt. 

Ein Wendepunkt

Länder an der ehemaligen sowjetischen Grenze wie Polen sahen die Interventionen Moskaus in der Ukraine als eine Rückkehr der russischen Aggression. Deutschland vertrat die Ansicht, dass, was auch immer passiere, die Beziehungen Deutschlands zu Russland nicht beeinträchtigt werden dürften. Die Meinung eines Landes wie Portugal war, dass dies alles weit weg passierte und Europa nicht unbedingt betraf.

Trotzdem war es ein Wendepunkt. Russland meinte, dass der Westen eine implizite Vereinbarung über die Neutralität der Pufferregion verletzt hatte. Die USA glaubten, Zeuge eines neuen russischen Versuchs zu werden, in den Status einer Großmacht zurückzukehren. Europa war abwechselnd alarmiert oder gleichgültig.

Weißrussland, ein Satellit Moskaus

Doch die jüngsten Ereignisse in Weißrussland haben dies geändert. Ein Ryanair-Flugzeug, das von einem EU-Land in ein anderes flog, wurde gezwungen, in Weißrussland zu landen, wo zwei seiner Passagiere verhaftet wurden. Russland hatte Weißrussland und dessen umstrittenen und von der Opposition bekämpften, pro-russischen Präsidenten nach den chaotischen weißrussischen Wahlen im vorigen Jahr unterstützt, und wenn es vorher nicht klar war, dann war es das jetzt: Weißrussland war ein Partner, wenn nicht sogar ein regelrechter Satellit Moskaus.

Das Ryanair-Ereignis machte Europa klar, dass sich die russische Macht gen Westen bewegt hatte und nun an der Grenze des Baltikums und Polens angekommen war. Aber für Russland war schon lange das Gegenteil der Fall – dass die europäische Macht nämlich stetig nach Osten vordrang. Genau darauf bezog sich Lawrow zumindest teilweise in seiner Rede auf der EU-Konferenz. Und doch sprach er mit keinem Wort die Schlüsselfragen an: Wie ist das Verhältnis Europas zu den Vereinigten Staaten? Und was genau ist Europa?

Europas Sicht auf Russland spalten

Man kann die erste Frage nicht beantworten, ohne zuerst auf die zweite eine Antwort zu finden. Die Russen müssen die Antwort jetzt kennen. Wenn Europa ein einheitliches Gebilde mit einer einheitlichen Außenpolitik ist, das unter der Schirmherrschaft der Nato agiert, dann steht Russland nicht nur gegen Europa, sondern auch gegen die Vereinigten Staaten. Sollte das nicht der Fall sein, dann ist Russland in einer viel stärkeren Position. Moskau kann nicht erwarten, Amerikas Meinung in dieser Frage zu ändern, aber es könnte in der Lage sein, Europas Sicht auf Russland zu spalten. Und da die Nato in vielen Fragen auf der Grundlage von Einstimmigkeit agiert, blockiert das im Wesentlichen die USA.

In diesem Zusammenhang macht Lawrows Rede Sinn. Er sprach direkt zu Europa und teilte dessen politischen Führern mit, dass Russland reagieren wird, wenn sie weiter nach Osten drängen. Er sprach zu denen, die hofften, dass sich die Situation in Belarus einfach in Luft auflösen würde. Sein Publikum – die EU – ist nicht Europa, sondern ein Zusammenschluss vieler (nicht aller!) europäischen Länder, die qua eines Vertrags über wirtschaftliche Zusammenarbeit geeint sind. 

EU in Alarmbereitschaft

Die EU betreibt keine Außenpolitik, die über die Handelspolitik hinausgeht, und sie verfügt auch nicht über ein Militär. Sie ist als Institution ohnehin abgeneigt, nationale Sicherheitsfragen in wirtschaftliche Fragen eindringen zu lassen. Lawrows Rede war für diese Gruppe alarmierend, und genau das war auch die Intention. Die EU-Staaten mögen sich über den Ryanair-Vorfall aufgeregt haben – aber nicht so sehr, dass sie Russland militärisch oder wirtschaftlich unter Druck setzen wollen.

Für Russland ist ein zersplittertes Europa die beste Verteidigung, weil es die Nato lähmt und ein verstärktes Engagement der USA erschwert. Ohne die Nato muss das US-Engagement von Staat zu Staat und damit ohne die unhinterfragte Unterstützung der europäischen Länder erfolgen. Das macht die Machtprojektion von Nordamerika auf Polen zu einer schwierigen logistischen Angelegenheit.

Unsicher über die eigene Stärke

Mit anderen Worten: Russland will einer gemeinsamen amerikanisch-europäischen Reaktion auf eine hypothetische Aktion in der Ukraine zuvorkommen. Aber Fakt ist eben auch: Die Russen sind schwach und verängstigt. Sie haben Angst vor der vollen Dimension des Untergangs der Sowjetunion, und obwohl sie hier und da Truppen aufstellen, haben sie kein Vertrauen in ihre Fähigkeit, sich durchzusetzen. Sie sind unsicher über ihre eigene Stärke. Sie glauben, dass sie mit Weißrussland ein Fenster der Gelegenheit haben – aber um es voll auszunutzen, müssen sie Risse in Europa schaffen.

Das ist aus russischer Sich der richtige Schritt – und deswegen ist mit zahlreichen attraktiven Angeboten an verschiedene europäische Länder zu rechnen. Russlands Problem besteht allerdings darin, entsprechend attraktive Angebote zu finden.

 

In Kooperation mit

Anzeige