Russen in Estland - „Nie wieder so ein Horror“

In Estland sind 25 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen, viele haben auch einen russischen Pass. Im Cicero-Interview spricht einer von ihnen über die Situation der russischen Minderheit in Estland – und unter welchen Bedingungen er sich vorstellen kann, nach Russland zurückzukehren.

Die russische Seite des Grenzübertritts in Narva. / Foto: Sebastian Semmer
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Auf Bitten unseres Interviewpartners, der im Fall eines Interviews unter Klarnamen negative Konsequenzen für seine Familie in Russland befürchtet, veröffentlichen wir das Gespräch anonym. 

Aus welcher russischen Stadt kommen Sie?

Ich komme aus einer mittelgroßen Stadt östlich von Moskau.

Wieso haben Sie sich dazu entschieden, nach Estland zu gehen?

Nach dem Schulabschluss wollte ich im Ausland studieren. Estland war dafür genau die richtige Wahl. Jetzt lebe ich schon sieben Jahre hier, außerdem habe ich ein Jahr lang in den USA studiert. Ein weiterer Vorteil an Estland war, dass ich immer unkompliziert die Grenze zurück nach Russland überqueren konnte, um meine Eltern zu besuchen.

Und jetzt?

Jetzt habe ich überhaupt nicht vor, nach Russland zurückzukehren, solange sich die Situation nicht beruhigt hat. Niemand weiß, was noch in Russland passieren wird. Wenn ich jetzt nach Russland gehe, werde ich vielleicht gar nicht mehr nach Estland zurück können. Im schlimmsten Fall könnte man mich zum Wehrdienst zwingen. (Studenten leisten in Russland zurzeit keinen Wehrdienst, Anm. d. Red.) Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, an der Front zu kämpfen. Oder wegen Wehrdienstverweigerung ins Gefängnis zu kommen.

Unter welchen Bedingungen wäre für Sie eine Rückkehr nach Russland vorstellbar?

Wenn sich in Russland ein Machtwechsel zu einem liberalen System vollzieht und Putin nicht mehr an der Macht ist. In Estland befinde ich mich in Sicherheit, und hier kann ich meine Meinung auch frei äußern – das möchte ich nicht einfach aufgeben.

Der Hafen in Narva. Foto: Sebastian Semmer

Was berichten Ihre Verwandten aus Russland über die Situation in ihrem Land?

Dass das soziale Klima in Russland rauer wird. Wie viele für den Krieg sind, weiß niemand so genau. Die Statistik behauptet, es seien 70 Prozent. Aber oft sagen das die Leute ja nur, weil sie das bekunden wollen, was als sozial erwünschte Meinung gilt. Ich persönlich vermute, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung den Krieg nicht unterstützt, während die andere Hälfte dafür ist. Aber wer dagegen ist, kann seine Meinung nicht frei äußern. Denn wer sich öffentlich gegen den Krieg stellt, muss mit harten Konsequenzen rechnen. 

Wie sehen die aus?

Einem neuen Gesetz zufolge kann man bis zu 15 Jahre im Gefängnis landen. In der Praxis wird das Gesetz aber nie so streng angewandt, eher bekommt man hohe Geldstrafen aufgebrummt. Zum Beispiel, wenn man an Antikriegsdemos teilnimmt. 

Wie nehmen die estnischen Russen den russischen Krieg gegen die Ukraine wahr?

Das ist eine gute Frage. Von den Russen, die in den postsowjetischen Staaten leben – in Kasachstan, in Litauen, Lettland und eben auch in Estland –, unterstützt vor allem die ältere Generation die Politik des Kreml. Es ist für sie psychologisch extrem schwer, sich gegen Russland zu stellen. 

Wieso?

Was die estnischen Russen betrifft, kann ich folgendes beobachten: Sie befinden sich in einem permanenten Selbstwiderspruch. Zwar sind sie in Estland geboren, aber sie fühlen sich nie ganz zuhause. Das ist im Grunde eine Nationalitätenfrage – immerhin sind 25 Prozent der estnischen Bevölkerung Russen. Viele von ihnen unterstützen Putin, weil sie mit ihm ein Gefühl nationaler Stärke verbinden. Ich kenne hier lebende Russen, die für den Krieg sind.

Wahrscheinlich konsumieren sie vor allem russische Medien?

Zweifellos. Und dass infolge des Krieges viele russische Fernsehsender in Estland abgeschaltet wurden, sorgt vor allem in der Ü40-Generation für Unmut. Denn viele von ihnen sprechen kein Estnisch, womit sie sich wiederum bei den Esten nicht gerade beliebt machen. Die Jüngeren wiederum informieren sich vor allem über Online-Medien. Sie schauen also kein Fernsehen.

Ein Angler in Narva. Foto: Sebastian Semmer

Wie informiersen Sie sich über die aktuelle Situation?

Über Meduza (ein lettisches Medienportal in russischer Sprache, Anm. d. Red.) und über verschiedene Telegram-Kanäle. Beides ist auch in Russland sehr beliebt. Hier in Estland kann ich frei auf Meduza zugreifen, aber in Russland braucht man dafür einen VPN-Server. Dementsprechend ist das dort viel aufwendiger, an unabhängige Informationen zu kommen. Aber Telegram zu zensieren, hat man in Russland bislang immer noch nicht so richtig geschafft. Von meinen Bekannten in Russland schaut niemand fern, nicht einmal meine Großmutter.

Das ist unter in Deutschland lebenden russischsprachigen Menschen ebenfalls die große Gretchenfrage: Schaut man russisches Fernsehen oder nicht? Das ist meistens der entscheidende Faktor in Sachen politische Meinungsbildung.

In Estland und Russland ist das genauso, da sehe ich keinen prinzipiellen Unterschied zu Deutschland. In Russland kenne ich Menschen über 50, die ich persönlich immer sehr geschätzt habe und die auch sehr intelligent sind. Aber wenn sie fernsehen, dann unterstützen sogar sie in der Regel den Krieg. Man sollte die Wirkung der Propaganda nicht unterschätzen.

Schon in der Sowjetzeit gab es in den baltischen Republiken sehr starke Unabhängigkeitsbestrebungen. Zumal sie auch für viele Sowjetbürger als Tor nach Westen galten. Wie wird das Baltikum heute in Russland wahrgenommen?

Wenn man Russen davon erzählt, dass man in Estland lebt, dann fragen viele besorgt nach, ob man dort nicht diskriminiert wird. Denn in den russischen Fernsehsendern ist davon ohne Ende die Rede. Dazu kommt, dass das Baltikum für viele Russen eine Art „Europa zweiter Klasse“ ist.

Am Bahnhof in Narva. Foto: Sebastian Semmer

Was meinsen Sie damit?

Das „große Europa“ – das ist für viele Deutschland, Großbritannien oder Frankreich. Das Baltikum liegt für viele Russen irgendwo zwischen Russland und Europa, es steht also eine Stufe unter den „großen“ Staaten Europas. Die baltischen Staaten gelten aber dennoch als relativ reiche Länder. 

Und wie erleben Sie das Leben als Russe in Estland?

Diskriminierung habe ich in Estland noch nie erlebt: Meiner Erfahrung nach sind die Esten ein sehr höfliches und zuvorkommendes Volk. Aber ich habe auch schon mit Russen gesprochen, die sich ungerecht behandelt fühlen. 

Hat man in Estland Angst vor einem russischen Angriff?

Ja, viele Esten habe eine Art Urangst vor Russland. Das kann ich auch sehr gut verstehen, denn man lebte hier sehr lange unter russischer beziehungsweise sowjetischer Besatzung. Aber einen russischen Angriff auf das Baltikum halte ich nicht für realistisch. Die baltischen Staaten sind schließlich allesamt Nato-Mitglieder. Und Russland hat einfach nicht genug Kräfte, die es mal eben so aus der Ukraine abziehen könnte, um gegen das Baltikum Krieg zu führen.

Sie leben in Tartu und haben im Rahmen Ihres Studiums mit einem internationalen Umfeld zu tun. Wie schauen Ihre Kommilitonen auf Russland?

Es kommt auf den jeweiligen Menschen an. Meine Kommilitonen kommen aus verschiedenen Weltteilen, das Studium ist auf Englisch. Ich kenne beispielsweise Studenten aus Georgien, die auf Russland verständlicherweise nicht gut zu sprechen sind. Eine einheitliche Meinung über Russland erkenne ich aber nicht, außer dass so gut wie alle gegen den Krieg sind. Ich kenne nur einen jungen Mann meines Alters, der Putin unterstützt. Er lebt in Narva – einer Stadt, die zu 90 Prozent russisch ist und direkt an der estnisch-russischen Grenze liegt. Vielleicht hat das auch damit etwas zu tun.

Der Grenzübertritt nach Estland. Foto: Sebastian Semmer

Dabei spitzen sich die Konflikte zwischen Auslandsrussen und den Gesellschaften, in denen sie leben, immer stärker  zu. Am 9. Mai beispielsweise erleben wir in mehreren Ländern Versammlungen zum „Tag des Sieges“, die sich inzwischen zu russischen Propagandamärschen verwandelt haben.

Früher war der „Tag des Sieges“ ein Feiertag, der alle Bürger der ehemaligen Sowjetunion gleichermaßen betraf. Und er war vor allem ein Tag des stillen Gedenkens: Man gedachte derer, die auf den Schlachtfeldern Osteuropas im Befreiungskampf gegen den Nationalsozialismus gefallen waren. Das hat sich in den letzten Jahren geändert.

Woran machen Sie die Veränderungen fest?

In den Jahren vor Putin und dem aktuellen Krieg gingen am 9. Mai so gut alle Menschen freiwillig zu den Gedenkstätten, um Blumen für ihre gefallenen Familienangehörigen niederzulegen. Jetzt gehen nur diejenigen gerne zu den 9.-Mai-Demonstrationen, die aktiv die Politik des Kreml unterstützen – alle anderen sind eher widerwillig dabei, weil sie sich zur Teilnahme an derartigen Veranstaltungen gezwungen sehen. Auch wenn ihnen die Vereinnahmung dieses Gedenktags durch die russische Politik zuwider ist.

Die alte Festung in Narva. Foto: Sebastian Semmer

Was sollte Ihrer Meinung nach die Kernbotschaft des 9. Mai sein?

Eigentlich sollte der 9. Mai daran erinnern, wie schrecklich der Krieg ist. Die Botschaft sollte lauten: „Nie wieder so ein Horror“. Aber Russland befindet sich heute im Zustand des „Pobedobesiye“ (Siegeswahn, Anm. d. Red.). Für die Russen lautet die Botschaft des 9. Mai nunmehr: „Wir können es wiederholen!“ 

Woran liegt das?

Man wollte offenbar vergessen, welche unvorstellbaren Opfer die Völker der ehemaligen Sowjetunion für den Sieg über Nazideutschland erbringen mussten: All dies wird dadurch überschattet, wie ruhmreich „wir“ den Nationalsozialismus besiegt haben. Und von den Veteranen lebt ja auch kaum jemand mehr, der uns über die Schrecken des Krieges berichten könnte.

Wer zieht heute in den Krieg?

Meine russische Heimatstadt betrifft der Krieg kaum, auch wenn ich persönlich schon von einem Todesfall gehört habe. Es handelt sich um den Bekannten eines Bekannten, der im Einsatz in der Ukraine getötet wurde. Das ist aber die Ausnahme. Denn es sind vor allem Dorfbewohner aus verarmten Regionen, die an die Front gehen. Burjaten beispielsweise oder Dagestaner. Sie tragen prozentual gesehen den größten Anteil der russischen Verluste im Ukraine-Krieg.

Das Gespräch führte Nathan Giwerzew.

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