Proteste in den USA - Wie Trump von der Krise profitieren könnte

Donald Trump befand sich bis zuletzt im Rückzugsgefecht. Paradoxerweise, so schreibt USA-Experte Thomas Kleine-Brockhoff, könnte die politische Krise nach dem Tod von George Floyd aber zu seiner Wiederwahl führen.

Weltweit gehen Demonstranten nach dem Tod von George Floyd auf die Straße - hier in Frankfurt / picture alliance
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Thomas Kleine-Brockhoff leitet das Berliner Büro des German Marshall Fund of the U.S., verantwortete Planung und Reden bei Bundespräsident Gauck und ist Autor von „Die Welt braucht den Westen“ (Edition Körber).

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Bei all dem Rauch und den düsteren Vorahnungen, die über den Vereinigten Staaten hängen, stellt sich die Frage, ob dies immer noch dasselbe Land ist, das Barack Obama zweimal zum Präsidenten gewählt hat; das Land, das einer Regenbogen-Koalition von Menschen aller Herkünfte und Hautfarben zur Mehrheit verholfen hat; das Land, das bei allen Mängeln und tödlichen Rückschlägen zugleich sichtbare Erfolge bei dem Versuch erzielt hat, den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung täglich und im Alltag zu leben.

Als Barack Obama sich diese Woche in einem Video erstmals zu den Unruhen zu Wort meldete, war er sofort wieder da, der Zukunftsglaube, der eine Mehrheit der Amerikaner nach 2008 so angesteckt hat. Obama spricht von der Hoffnung, zu der die Massenmobilisierung dieser Tage Anlass gebe und dem gesellschaftlichen „Erwachen“, besonders bei jungen Leuten, das zu beobachten sei. Sogar inmitten all des Aufruhrs ist Obama zuversichtlich, dass Amerika „am Ende ein besseres Land sein“ werde.

Vielleicht bedarf es eines ewigen Aufklärungs-Optimisten wie Obama, um die Nation an „den Bogen der Geschichte“ zu erinnern, der sich am Ende doch „dem Fortschritt zuneigen“ werde. Doch reicht den Amerikanern die Erinnerung an die langen Linien der amerikanischen Staatlichkeit im Augenblick der Empörung über den gewaltsamen Tod eines Menschen in Polizeigewahrsam, den kaum jemand für Zufall und für einen Einzelfall hält? Werden sie die Geduld und das Vertrauen in den Inkrementalismus haben, den Barack Obama demonstriert? Oder wird veränderungsdurstiger Sofortismus auf eine beharrungsmächtige Gegenbewegung prallen?

Risse in Trumps Koalition

Kurzfristig, vielleicht sogar mittelfristig, führt das Zepter Donald Trump, der Meister der gesellschaftlichen Spaltung, des Aufhetzens der einen gegen die anderen. Solange dieser Mann regiert, ist gesellschaftlicher Frieden und Fortschritt, wie ihn Obama erträumt, eine Schimäre. Im Gegenteil, die Proteste und Unruhen könnten etwas bewirken, das zuletzt unwahrscheinlich schien: die Chancen auf Trumps Wiederwahl zu erhöhen.

All der Massenaufzüge der „Make-America-great-again“-Bewegung zum Trotz sind seit längerem Risse in der Wahl-Koalition des Donald Trump zu besichtigen. Viele der Frauen in den Vorstädten, die ihm 2016 zum Wahlsieg verhalfen, fühlen sich inzwischen abgestoßen, und auch der Arbeiterbewegung von Pennsylvania und Michigan kann sich Trump nicht mehr gänzlich sicher sein. Dazu das Miss-Management vor und während der Corona-Krise, die vorläufig 105.000 Toten, und vor allem: mehrere Dutzend Millionen Arbeitslose und Zwangsbeurlaubte.

Doch dann, aus dem Nichts, für Trump wie vom Himmel gesandt, die Brandstifter und Plünderer in Amerikas Städten, die ablenken vom Führungsversagen der vergangenen Monate und die Möglichkeit eröffnen, jenen starken Mann zu geben, der er so gerne sein möchte. So viel ist klar: Mit der vergangenen Woche hat der „law-and-order“ Wahlkampf des Donald Trump begonnen. Der Mann, der das Gesetz nutzt und beugt, wie es ihm gefällt, nun in der Pose des Verteidigers von Recht und Ordnung.

Desinformation gegen Desinformation

Natürlich kommt dabei der staatliche und nicht-staatliche Desinformationsapparat des nationalistischen Camps zu Hilfe. Der Justizminister William Barr, Trump treuester Knappe, will Indizien dafür besitzen, dass vor allem die „Antifa“ dafür gesorgt habe, dass sich friedliche Massenproteste an vielen Orten in Zerstörungs-, Brand- und Plünderzüge verwandelten. Gerade so, als seien Amerikas Autonome, die es zwar gibt, von denen man aber kaum je hört, eine wohlgeölte Organisationsmaschine, die Massen mobilisieren könnte. Und dann ist da natürlich George Soros, der Lieblings-Bösewicht, der angeblich alles anheizt und alles bezahlt. Die New York Times berichtet davon, dass in den ersten fünf Tagen der Proteste 34.000 Tweets und 72.000 Facebook-Einträge George Soros erwähnt hätten; 9 von 10 Einträgen hätten ihn in Verbindung mit dem Todesfall von Minneapolis gebracht.

Da wirkt der Versuch der politischen Linken geradezu hilflos, mit Desinformation auf Desinformation zu reagieren und die gleichfalls unbelegte Behauptung zu zirkulieren, rechte agents provocateurs seien die Urheber der Gewalt in den Städten. Reicht es denn nicht festzustellen, dass sich einmal mehr erweist, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist und wie zersetzend Misstrauen und Spaltung hineinwirken in Gesellschaften?

Jedenfalls steht angesichts all des Chaos‘ und all der Verwirrung zu vermuten, dass so manche weiße Frau in der Vorstadt und so mancher weiße Arbeiter im Rostgürtel Gewalt in den Straßen noch weniger mag als Donald Trump. Die Unruhen dieser Tage machen die Abwägung, die traditionell Konservative am Wahltag zu treffen haben, noch schwieriger: Nase zuhalten und Kreuzchen bei Donald Trump machen oder zu Hause bleiben?

Keine gleichen Lebensbedingungen für Weiße und Schwarze

Auch die neue Diskussion über „institutionellen Rassismus“ in den Vereinigten Staaten könnte leicht Folgen für Wahlkampf und -ausgang zeitigen. Die vergangenen Wochen haben wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht, wie weit die amerikanische Gesellschaft trotz aller Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte noch entfernt ist von der Gleichbehandlung von Schwarzen. Bedrückend die Statistik aus Minneapolis, dem Ort des tödlichen Polizeieinsatzes, wonach 2 von 10 Bewohnern schwarz sind, aber jene, gegen die polizeiliche Gewalt angewendet wird, in 6 von 10 Fällen schwarz sind. Ja, sind denn Schwarze so viel öfter Gesetzesbrecher und leisten sie so viel öfter Widerstand gegen die Staatsgewalt?

Zudem hat die Corona-Krise neue Informationen über ein altes Problem zutage gefördert: auch nach Jahren und Jahrzehnten des graduellen Aufstiegs einer schwarzen Mittelschicht, gut sichtbar in den Vorstädten von Atlanta oder Washington, kann von gleichen Lebensbedingungen von Schwarzen und Weißen keine Rede sein. Wie die Washington Post berichtet, leben in 22 Prozent der amerikanischen Landkreise und Stadtbezirke schwarze Mehrheiten. Dort finden sich aber mehr als die Hälfte der Corona-Fälle, und fast 60 Prozent aller Corona-Toten sind dort zu beklagen. Diese Daten verweisen auf die oft ärmlichen und beengten Wohnverhältnisse und die mangelhafte Gesundheitsversorgung in diesen Gegenden des Landes.

Natürlich wäre dies der Moment einer erneuerten Anstrengung zur endgültigen Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung, einer Selbstverpflichtung zur institutionellen Gleichstellung und praktischen Gleichbehandlung, zur Verbesserung von Bildungschancen und Gesundheitsversorgung, zur Durchsetzung jener Polizeireform, die unter Obama begonnen wurde, aber in diversen Städten stecken blieb. Dafür ließe sich gewiss gesellschaftliche Unterstützung mobilisieren, gerade jetzt. Auch Konservative wären für viele Elemente dieser Agenda zu gewinnen. Von Donald Trump ist so eine Reforminitiative nicht zu erwarten; dafür hat sie sein Gegenkandidat Joe Biden vergangene Woche angekündigt.

Biden unter Druck der jungen Wilden

Allerdings steht der Kandidat unter dem Druck der jungen Wilden in seiner Partei, die wollen, dass Biden den Bernie gibt und nicht Obamas Inkrementalismus wieder aufnimmt. Biden soll nach links rücken und eine weitgehende gesellschaftliche Transformation anstreben – so wie Bernie Sanders, den viele der jungen Wilden lieber als Kandidaten gesehen hätten. Schon sind auch die identitätspolitischen Belehrungs-Brigaden aus den Hochschulen ausgerückt, um diesen Moment zu kapern. Sie argumentieren, dass es nicht nur um „institutionellen“, sondern um „strukturellen“ Rassismus gehe. „Unterdrückerische Strukturen“ begründeten das „weiße Privileg“ und „die Kommodifizierung“ eines jeden und einer jeden zum „Produkt“ und damit zum „Objekt“ bildeten den Kern des Problems. Dieser anti-kapitalistische Furor ist aus Westeuropas Hochschulen wohl bekannt, aber aus Amerika? Man kann sich ausmalen, welche Wirkung dieses Pädagogikum auf traditionell Konservative haben kann, die an Donald Trump zweifeln, sich nicht als Rassisten sehen, aber nun lernen sollen, dass sie es doch sind, „strukturell“ nämlich.

Nein, ein Moment der Moderation ist dies ganz gewiss nicht. Vielmehr geht die Aushöhlung der politischen Mitte weiter. Bislang schien die klügste Strategie der Demokraten, auf asymmetrische Demobilisierung zu setzen; also – wie aus Deutschland bekannt – dem politischen Gegner die Gründe zu nehmen, zur Wahlurne zu gehen und den eigenen Kandidaten zu wählen. Donald Trump liefert moderaten Konservativen ja auch hinreichend Anlaß, zu Hause zu bleiben. Nun aber sieht es so aus, als würde der Wahlkampf in eine Phase der symmetrischen Mobilisierung eintreten, unter dem identitätspolitischen Druck von links und der Law-and-Order-Kampagne von rechts.

Den Aufklärer Obama plagen Zweifel

Das ist potentiell eine gute Nachricht für den großen Spalter Donald Trump. Bisher hat er sich als eine Art Trüffelschwein erwiesen; einer, der solche Chancen sogar von Ferne riecht. Ob er sie zu nutzen weiß? Trump ist zugleich ein Meister darin zu zerstören, was er zuvor geschaffen hat. In der Zeitrechnung der Ära Trump werden die Monate bis zur Wahl noch viele Volten hervorbringen und sich anfühlen wie ein ganzes Jahrzehnt.

Nichts ist sicher im Amerika dieser Tage. Und letztlich ist sich nicht einmal der Aufklärer Obama ganz sicher. Diese Zweifel, die ihn plagen, hat sein langjähriger Berater Ben Rhodes aufgeschrieben, in seinen Memoiren („The World As It Is“). Darin beschreibt Rhodes, wie er im November 2016, also vor der Amtseinführung Donald Trumps, mit Obama auf Abschiedstournee durch die Welt reist und der Präsident ihn mitten im peruanischen Lima, in der Staatslimousine sitzend, fragt: „Was, wenn wir falsch lagen?“ Angesichts des Triumphes von Donald Trump sorgt sich Obama, ob er vielleicht mit seiner Regenbogen-Koalition 10 oder 20 Jahre zu früh gekommen sei und ob er vielleicht „zu hart und zu weit gedrückt“ habe? Was, so fragt sich Obama, wenn „die Menschen am Ende doch nur auf ihre Stämme zurückfallen wollen?“

Diese Fragen sind heute offener denn je.

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