Polnischer Tagebau - Das schwarze Loch

Im „Zittauer Zipfel“ liegt der riesige polnische Braunkohletagebau Turów. Er sorgt für leere Brunnen und absinkende Innenstädte in Deutschland und Tschechien – und für viel Streit auch über die Grenzen hinweg. Das Dreiländereck ist ein Beispiel dafür, wie europäische Integration misslingt.

Das polnische Dorf Turoszów liegt in unmittelbarer Nähe des Kraftwerks Turów / Marina Pepaj
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Florian Bayer ist freier Journalist und lebt in Wien. Sein Themenschwerpunkt ist Mittel- und Osteuropa.

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Willkommen in der Hölle“, sagt Ingenieur Jan Wyszinski und wischt sich die Schweißperlen von der Stirn. Er steht in einer riesigen Halle und öffnet ein Sichtfenster an einem Stahlkasten. Hinter der Scheibe züngeln Flammen. Gierig verschlingen sie das schwarze Pulver im Bauch des Ofens. Rund um die Uhr füttert ihn ein Netz aus Fließbändern, fünf Tonnen zerkleinerte Braunkohle pro Minute, die bei 1200 Grad zu Asche zerfallen. Die Hitze bringt Zigtausende Liter Wasser zum Sieden. Der Dampf treibt eine 500-Megawatt-Turbine an.

Wir stehen im modernsten Kraftwerksblock Europas, sagt Wyszinski. Nirgendwo gebe es bessere Kontrollsysteme, nirgendwo weniger Schadstoffe. Aus dem Kühl- und Rauchgasturm steige fast nur Wasserdampf. Und entweichen täglich Tausende Tonnen Kohlendioxid, über die der Angestellte des Energiekonzerns PGE aber nicht so gern spricht.Auch die anderen, deutlich älteren Kraftwerksblöcke und die vielen Pannen blendet er aus.

Streit um die Kohle

Das Kraftwerk Turów im Dreiländer­eck Polen, Tschechien und Deutschland produziert bis zu 8 Prozent des polnischen Stromes, dazu Fernwärme für Tausende Haushalte. Es ist aber auch eines der 20 klimaschädlichsten Kraftwerke Europas. Braunkohle ist der schmutzigste fossile Energieträger. Zudem gräbt der Tagebau ringsum das Grundwasser ab, verursacht krank machenden Lärm, bläst Feinstaub in die Luft und, das sagen Gutachter und Experten, lässt die nur drei Kilometer entfernte Zittauer Altstadt absinken. 

Dennoch soll Turów bis 2044 weiterlaufen, zum Unmut der beiden Nachbarländer. Bis auf wenige Meter reicht die Grube an die deutsche und die tschechische Grenze heran. Mehr als 25 Quadratkilometer ist sie mittlerweile groß und bis zu 150 Meter tief – und sie soll weiterwachsen.

Seit langem gibt es daher Streit. Er eskalierte, als Tschechien im Februar 2021 Polen vor dem Europäischen Gerichtshof verklagte: Turów würde die Trinkwasserversorgung grenznaher Dörfer gefährden, und Polen hätte die Nachbarn stärker einbinden müssen. Noch nie hatte bis dahin ein EU-Staat einen anderen verklagt.

Es folgte ein juristisches und politisches Scharmützel. Anordnung des EuGH im Mai 2021: sofortiger Stopp der Anlage bis zum endgültigen Urteil. Worauf Polen sich selbst die Betriebserlaubnis verlängerte und täglich 500.000 Euro Bußgeld überwies. Anfang 2022 dann ein Vergleich: Warschau zahlt 45 Millionen Euro Strafe, legt seine Unterlagen offen und baut einen „grünen Wall“ am Südrand der Grube. 

2004 waren Tschechien und Polen der EU beigetreten, bald fielen die Schlagbäume, kurz wehte Hoffnung durch das Dreiländereck. Durch drei Regionen, die weit weg lagen von den Entscheidungszentren ihrer Länder. Gezeichnet von Abwanderung und den Wunden, die das Industriezeitalter geschlagen hat. 

Trzciniec Dolny, Polen: das Kraftwerk

Zwei Dörfer. Eine Werkssiedlung. Eine kaum noch befahrene Werkseisenbahn. Dazwischen das Kraftwerk. Sechs Kühltürme, sieben aktive Blocks, Filteranlagen, Förderbänder, Werkstätten, Kantinen, Büros.

In einem der Büros sitzt Kraftwerks­ingenieur Jan Wyszinski. Er trägt gelbe Weste, weißen Helm und führt voller Stolz durch „sein Baby“, den neuen Kraftwerksblock. In Betrieb ging er im Mai 2021, und tatsächlich wirkt alles brandneu, vom Personenaufzug über die blanken Rohre bis zum Kontrollraum mit seinen Dutzenden Leuchten und Monitoren. Auf einem davon laufen automatische Fehlermeldungen durch, leuchten erst orange, dann grün auf. Das ist normal, versichert Wyszinski. 
Bildschirme zeigen das Innere der Brennkammer. Rund um die Uhr lodern die Flammen. Derzeit laufe das Kraftwerk auf rund 1500 Megawatt, bis zu 2000 sind möglich. Wyszinski betont die Vorteile der Kohle: „Wir können sekundenschnell auf höheren Bedarf reagieren.“

Tatsächlich liefern Sonnen-, Wind- und Wasserkraft nicht konstant Energie, Kohle kann das ausgleichen. Rund 80 Prozent des polnischen Stromes stammen aus Kohlekraftwerken. Daran wird sich so schnell nichts ändern, auch wenn riesige Windparks in der Ostsee geplant sind und Atomkraftwerke diskutiert werden. 
In den 28 Jahren, die er schon im Kraftwerk arbeitet, hat Wyszinski die Umstellung auf moderne Filteranlagen erlebt, um ab den 1990er Jahren den EU-Standards zu genügen. „Wir arbeiten so umweltschonend wie möglich“, sagt er und meint damit den neuen Block. Die älteren bekommen wir an diesem Tag nicht zu sehen.

Drei Kilometer östlich des Kraftwerks: die Halde

Wir kommen vom Osten, von der verwilderten grünen Grenze zu Tschechien. Keine Menschenseele verirrt sich hierher. „Perfekt mit der Umgebung harmonieren“ würde die Halde laut Kraftwerkskonzern PGE. Die Wahrheit ist: Alles wirkt künstlich. Spazierwege gibt es nicht, nur Schneisen für die LKWs, die hier einst fuhren. Ansonsten Jungwald und Gebüsch, Flussbetten aus Steinkäfigen, immer wieder Brachen. Der Boden ist weißlich, karg, porös.

Zig Millionen Tonnen Erdreich wurden hier über Jahrzehnte aufgeschüttet. 22 Millionen Bäume ließ der Kraftwerkskonzern pflanzen, teilweise aus der Luft ausgesät. Seit 2006 ist die jahrzehntelang aufgeschüttete Halde „fertig“, der danach abgegrabene Abraum wird in die ausgeflözten Teile der Kohlegrube befördert.
Je höher wir die steilen Böschungen erklimmen, desto mehr Müll ragt aus dem Untergrund. Ledrige Stofffetzen. Grüne Plastikgitter. Kunststoffmatten, die aussehen wie Teile der Grubenfließbänder. „Leider laden immer wieder Leute hier ihre Abfälle ab“, wird Grubenboss Sławomir Wochna später dazu sagen. Dass hier von Anfang an Müll mitvergraben wurde, was offensichtlich ist, bestreitet er.

Nach zig Schleifen kommen wir auf ein Hochplateau, 250 Meter über der Umgebung. Wir blicken in den Sonnenuntergang, in eine fossile Apokalypse: links die Wunde des Tagebaus, rechts die Kühltürme, aus denen unaufhörlich gewaltige Wolken ins Dunkelblau quellen, daneben die Schlote. Im Hintergrund, da ist schon Deutschland, drehen einige versprengte Windräder ihre Runden.

Bogatynia, Polen: die arme, reiche Stadt

Paulina Wisniewska, 21 Jahre alt, ist geblieben. Vorerst.
Sie lebt in Bogatynia, 17 000 Einwohner, einer der reichsten Kommunen Polens. Der Name passt, „bogaty“ ist polnisch und heißt „reich“. Eine Verballhornung des deutschen Reichenau, wie die Stadt bis 1945 hieß. Rund 35 Millionen Euro spülen Kraftwerk und Grube jährlich in die Stadtkasse. Von diesem Wohlstand ist nichts zu merken, Plattenbauten mit abblätternden Fassaden dominieren die Stadt. 

Tatsächlich sind etliche Kohlemillionen versickert, der vorletzte Bürgermeister saß wegen Korruption im Gefängnis. Er hatte unter anderem Müll im Tagebau entsorgen lassen. Auch beim Bau des neuen Freibads soll es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. 

Arbeitsplätze abseits von Grube und Kraftwerk gibt es kaum. Wer mobil ist und Deutsch kann, fährt über die Grenze. Für die anderen gibt es wenig Perspektiven, stattdessen billiges Crystal Meth aus Tschechien an jeder Ecke. Deutsch- und Englischschulen, wie man sie in vielen polnischen Städten sieht, sucht man hier vergebens. Das Freizeitangebot beschränkt sich auf Skateparks, ein kleines Kino und eine Kegelbahn. Auch Lokale gibt es kaum. Abends lungern die Jugendlichen vor den Minimärkten und trinken billigen Alkohol. 

Paulina Wisniewska arbeitet als
Altenpflegerin und engagiert sich bei der
Freiwilligen Feuerwehr

Paulina Wisniewska sieht ihre Zukunft dennoch in Bogatynia. Ihr Job? „Ich pflege zwei ältere Frauen bei ihnen zu Hause.“ Die Arbeit gefällt ihr, sie mag es, anderen zu helfen. Ihr Herz aber schlägt für die Freiwillige Feuerwehr, seit vier Jahren ist sie Teil der Löschtruppe – als erste Frau. Damit kommen nicht alle Männer klar, manchmal werde sie gemobbt, aber das erträgt sie. Schon immer wollte sie Feuerwehrfrau werden. 

Gerade macht Wisniewska den Führerschein und absolviert einen Online-­Deutschkurs. Sie möchte weiter in Bogatynia leben, aber in Zittau, jenseits der Grenze, als mobile Krankenpflegerin arbeiten. Dann hätte sie alles auf einmal: Familie, Freunde, die Feuerwehr und „mehr Geld, mehr Wertschätzung“. Die gebe es jenseits der Grenze.
Nicht in Bogatynia, der armen, reichen Stadt am Rand der riesigen Grube.

Opolno-Zdrój, Polen: die Kurstadt, die weichen muss

Wir fahren aus der Stadt hinaus, vorbei an einem Friedhof, Sportplätzen, einer Tankstelle. Rechter Hand liegt das unscheinbare Opolno-Zdrój. Als Bad Oppelsdorf war es jahrhundertelang als Kur­ort bekannt. Das schwefelhaltige Wasser soll bei Rheuma und Arthritis helfen. Vom früheren Glanz zeugen noch die prunkvollen Kurhäuser im Ortskern. 

Werden sie bald weggebaggert? Geht es nach Grubendirektor Wochna, müssen nur einige wenige Häuser umgesiedelt werden. Laut einer Planungskarte wird aber fast der ganze Ort abgegraben. Manche verhandeln mit der Stadt über eine Entschädigung. „Wir und viele Nachbarn haben einen Brief von PGE erhalten, dass wir das Areal verlassen müssen“, sagt eine Frau, die seit mehr als 30 Jahren hier lebt und ihren Namen nicht öffentlich machen möchte.

Man habe ihrer Familie eine kleine Wohnung in einem städtischen Wohnblock angeboten. Ein gewaltiger Abstieg, denn jetzt wohnt sie in einem Häuschen mit Garten. „Sie sollen ein besseres Angebot machen!“
Wir fragen nach bei der Stadtverwaltung. Wie viele Häuser sollen weichen, wie hoch ist die Ablöse? Die Stadt verweist an den Konzern PGE, der aber hält sich bedeckt. Ein paar Jahre noch sind die Häuser sicher. Dann werden die Schaufelradbagger anrücken, um die Braunkohle zu holen und sie in den Schlund der Öfen zu befördern. Dann ist Bad Oppelsdorf Geschichte.

Uhelná, Tschechische Republik: das Dorf auf dem Trockenen

Hoch über den umliegenden Feldern, hoch über der Grube liegt Uhelná, das nur von Tschechien aus angefahren werden kann. Ein winziges Dorf, bewohnt von etwa 30 Menschen. Sie sagen, sie genießen es, das letzte Dorf an der Stichstraße zu sein. Es könnte idyllisch ruhig sein. Wäre da nicht das beständige Rattern der Fließbänder.

„Heute ist es besonders laut“, sagt Milan Starec. Der Mann, der den Rechtsstreit zwischen Tschechien und Polen mit ins Rollen gebracht hat, füttert seine Schafe, bevor er zur Arbeit fährt. Als er das Gatter zur Weide öffnet, stieben sie in alle Himmelsrichtungen davon. Er hält ihnen die Blätter eines Busches entgegen. So kommen sie wieder näher, gierig verschlingen sie das Grünzeug. 

Sandgrube bei Uhelná, einer tschechischen Siedlung direkt an der Grenze zu Polen

Weil die Wasserstände in den Dorfbrunnen von Jahr zu Jahr sanken, schlug Starec im Frühling 2019 Alarm. Er trommelte die Bewohner in der Kapelle zusammen, lud Journalisten, Umweltschützer und Experten ein. Für alle stand fest: Turów ist für die leeren Brunnen verantwortlich. Mit der Unterstützung von Greenpeace zog das Thema immer weitere Kreise, nach Liberec und Prag, nach Warschau und Brüssel. Journalisten kamen und gingen, immer wieder fanden sich Politiker und Fachleute in der Kapelle ein.

Seit Polen und Tschechien den Vergleich geschlossen haben, ist es wieder ruhiger. Eine Wasserleitung aus Liberec soll die Dörfer künftig versorgen, Genaueres ist noch unklar. Der Grubenbetreiber PGE hat sich auch verpflichtet, einen künstlichen Hügel am Südrand der Grube aufzuschütten. Er wird die Sicht verdecken und den Lärm ein bisschen mildern. In der Grube selbst soll eine neue unterirdische Spundwand den Abfluss des Grundwassers verhindern. Starec ist skeptisch. Im tiefer gelegenen Nachbarort Václavice musste vor zwei Jahren gar ein Tankwagen kommen, weil viele Hausbrunnen leer waren.
Ob der Wassermangel am Klimawandel liegt? Starec widerspricht und verweist auf die Gutachten.

Die Tierärztin Sandra Štoková in ihrem Garten in Uhelná

„Alles übertrieben“, wendet Petr Halbich ein. Der 66-Jährige lebt einige Häuser weiter, sein ganzes Leben schon. Den Tagebau gibt es seit Jahrzehnten, Probleme habe er nie damit gehabt. „Das alles ist hochgekocht, und der Grund sind die Neuzuzügler“, sagt er und meint damit auch den 2016 gekommenen Starec. Der behaupte, er habe die Mehrheit des Dorfes hinter sich, doch das stimme gar nicht.

Nebenan lebt Sandra Štoková in einem alten Bauernhaus. Auch sie sagt, sie habe kein Problem mit dem Tagebau. Štoková, von Beruf Tierärztin, füttert ihre Dutzenden Enten, drei Hunde und zwei Katzen, die Kinder toben im Garten herum. „Ganz ehrlich, jeder Zuzügler wusste, worauf er sich einlässt. Die Grube ist nicht erst seit gestern hier.“ Wasser habe sie jedenfalls immer gehabt, seit sie vor sechs Jahren hierhergezogen ist. 
Genau das sei das Problem, sagt Starec später: Dass viele es sich zu bequem machen. Viele Leute im Dorf würden das Risiko ausblenden, dass einmal gar kein Wasser mehr fließt. Starec und seine Mitstreiter wollen es nicht so weit kommen lassen und planen eine neuerliche Klage – dieses Mal gegen die tschechische Regierung. Weil sie mit dem Vergleich die Rechte der Bürger missachte.

Zittau, Deutschland: die absinkende Stadt

Über die Neiße, mehr Bach als Fluss, kommen wir nach Zittau. Der Stadtkern sinkt jedes Jahr um ein bis zwei Zentimeter ab. Ob das nun an Turów oder dem Altbergbau auf deutscher Seite liegt, darüber scheiden sich die Geister. Nur zwei Kilometer westlich der Innenstadt lag früher der Tagebau Olbersdorf. Heute ist er ein Badesee.

Für den Zittauer Oberbürgermeister Thomas Zenker, kürzlich erst wiedergewählt, ist der Fall klar. Er zeigt auf eine Landkarte in seinem Besprechungszimmer: Der Tagebau Turów ist etwa zehnmal so groß wie die Zittauer Innenstadt. Olbersdorf war um ein Vielfaches kleiner und ist seit 30 Jahren Geschichte. Dennoch berichten ihm immer wieder Zittauer von Rissen in ihren Hauswänden.

Blick von einem Kleingartenverein im Kreis Görlitz auf das Kraftwerk Turów

So wie Henry Smala. Früher Handwerker, heute Rentner. Er hat mehrmals große Sprünge in seinem Altbau in der Innenstadt sanieren lassen, auf eigene Kosten. Einem Gutachten zufolge liegen die Schäden nicht an der Bausubstanz. Dass aber wirklich der Tagebau Turów schuld ist, das kann Smala nicht beweisen.
Bürgermeister Zenker muss Leute wie ihn vertrösten. „Einzig und allein PGE wäre für den Schadenersatz zuständig“, sagt er. Doch der Stadt fehle das Geld für umfassende Gutachten. Auf sich alleine gestellt, ohne Unterstützung von Bund und Land, könne er nicht viel tun. Immerhin liegt Zenkers Beschwerde bei der Europäischen Kommission noch auf irgendeinem Schreibtisch.

Neben dem Absinken seiner Stadt beschäftigt ihn auch die Rekultivierung. Was soll aus der Grube werden, wenn sie eines Tages schließt? Ein Fluten durch die schmächtige Neiße würde laut Berechnungen um die 100 Jahre dauern. PGE behauptet bislang bloß, es gebe Pläne für einen künstlichen See, auch die finanziellen Rücklagen dafür. Details erfährt aber keiner. Für Zenker besteht die reale Gefahr, dass die Polen einfach zusperren und abziehen. Für ein solches Szenario spricht, dass das Land keine Hilfe aus dem milliardenschweren Just Transition Fonds der EU beantragt hat, der für solche Fälle vorgesehen ist. Zenker ist sicher: Das verheißt nichts Gutes.

Drausendorf, Deutschland: das sterbende Paradies 

Ein paar Kilometer weiter nördlich liegt Drausendorf, das zur Gemeinde Zittau gehört. Auf den Straßen sieht man keine Menschen, viele Häuser stehen leer. Statt einmal 600 Einwohner leben hier heute nur noch 100.
„Das Dorf stirbt“, klagt Joachim Schröter, der sein ganzes Leben hier verbracht hat. In seinem Garten ist es paradiesisch, die Brombeeren wachsen durch den Gartenzaun, und seine Sonnenblumen sind die höchsten weit und breit. Schröter aber ist unglücklich. Nur ein Hochwasserdamm, eine Wiese und die Neiße trennen sein Haus von der Grube. Früher war Staub ein Problem, mittlerweile vor allem der Lärm der Fließbänder und Maschinen. Besonders bei Ostwind. 

Noch mehr Sorgen macht ihm aber etwas anderes. 1989 kam die Abbruchkante ins Rutschen, und das Flussbett der Neiße wäre beinahe in die Grube abgestürzt. Seit Jahren schon graben die Schaufelradbagger zwar nicht mehr Richtung Deutschland weiter, auch wurde eine künstliche Aufschüttung, der „Neißepfeiler“, errichtet. Doch die Rutschung zeigt, wie instabil das Erdreich ist.

In Schröters Unmut mischt sich diffuse Nostalgie an die Zeit vor der Wende. Als in seinem Garten rauschende Feste gefeiert wurden. Als es noch einen Laden im Ort gab und viele Arbeitsplätze ringsum. Als Lehrer noch respektiert wurden, der Umgang mit Schülern trotzdem herzlich war. Seine Frau bremst ihn dann ein, sagt, dass nicht alles an Turów liege. Schröter nickt. Sie bringt ein Album aus dem Haus. Alte Zeitungsschnipsel dokumentieren einen jahrelangen, fruchtlosen Kampf. Joachim Schröter neben einer polnischen Delegation. Joachim Schröter neben einer grünen EU-Abgeordneten. Ein Bild-Artikel über die „gefährlichste Ortschaft Deutschlands“, die abzurutschen drohe. „Im Westen wäre mein Grundstück eine Menge wert, hier fast nichts“, sagt Schröter. Von seinen zwei Töchtern und seinem Sohn, alle in ihren Dreißigern, will keiner zurückkehren. Und Schröter versteht sie sogar.

Hirschfelde, Deutschland: im Schatten des Kraftwerks    

Ein Stück weiter nördlich liegt das 1911 eröffnete, 1992 stillgelegte Kraftwerk Hirschfelde. Es war der deutsche Vorläufer Turóws, bezog die Kohle aus demselben Revier. Der Zittauer Zipfel war damals noch deutsch, wanderte erst 1945 an Polen. Die Neiße wurde zur neuen Grenze. Menschen aus dem Osten Polens, ihrerseits Vertriebene, zogen in den Zittauer Zipfel. Von 1958 an ließ Polen sein eigenes Kraftwerk bauen, das heutige Turów, vier Jahre später ging es in Betrieb. Heute prägen seine Türme das Hirschfelder Stadtbild.

Niemand kennt die hiesige Historie besser als Wilfried Rammelt, dessen Eltern einst selbst über die Neiße mussten. Im alten Tanzsaal des längst geschlossenen Hotel Rieger hängen Fotos und Zeitzeugenberichte, auch der alte Befehl zur Aussiedlung der Deutschen. Zur Ausstellung, die er hier auf die Beine stellte, kamen zu seiner Überraschung auch viele Polen. „Die wissen fast nichts von ihrer Vergangenheit.“ Und die Deutschen kaum etwas von der anderen Seite. Das will Rammelt ändern, auch mit geführten Wanderungen auf beiden Seiten des Flusses.

Erschwert wird die Annäherung durch die fehlende Neißebrücke. Nicht wenigen ist das ganz recht. Dem 44-jährigen Alexander Sterz etwa. Er betreibt eine kleine Pension mit sechs Zimmern, gleich um die Ecke. Auch ihn stört das Surren und Poltern der Förderbänder. Auf die Buchungslage seiner Pension habe das Kraftwerk aber keine Auswirkungen. „Es ist kein Urlaubsort. Zu 80 Prozent habe ich Bauarbeiter hier, denen ist das schnuppe“, sagt Sterz. Doch es habe sich vieles verbessert: Die Luftverschmutzung sei kein Vergleich zu DDR-Zeiten, als der Ruß manchmal 30 Zentimeter hoch in „Drecksfelde“ lag. Von Kraftwerken beiderseits der Neiße. Sterz witzelt: „Irgendwann geben die Polen das Gebiet wieder den Deutschen zurück, damit die sich wieder drum kümmern.“

Der Pensionsbetreiber Alexander Sterz im Garten vor seiner
Pension in Hirschfelde

Schwerer aber wiegt für Sterz die Grenzkriminalität. Oft würden Dinge gestohlen, von Wäschespinnen bis hin zu Autos. Erst kürzlich fehlten eines Morgens die Kupferkabel der Eisenbahn, tagelang konnte kein Zug mehr fahren. Nicht zum ersten Mal. Und wenn man auf der anderen Seite spaziert, muss man nicht lange suchen, um tatsächlich Aschehaufen mit den Kabelresten zu finden.
Klar ist: Turów hat das nachbarschaftliche Verhältnis getrübt. Weniger wegen der Probleme durch den Tagebau selbst. Vielmehr wegen der fehlenden Kommunikation und Intransparenz, die auch wir erlebten: Ein Besuch der Grube, um den wir PGE mehr als zwei Monate lang baten, wurde erst im letzten Moment möglich. Am Ende war es aber kein Blick ins Innere, sondern lediglich auf die Bohrungen für die unterirdischen Spundwände. Gespräche mit Grubenmitarbeitern wurden von offizieller Seite unterbunden.

Auch alle angesprochene Kritik haben die Grubendirektoren weggewischt, als unberechtigt abqualifiziert. Selbst die Polen ringsum werden im Unklaren gelassen, was Umsiedlungen, Rekultivierung und alternative Arbeitsplätze betrifft. Statt transparenter Information gibt es Sündenböcke direkt in der Nachbarschaft, die angeblich den sofortigen Stopp Turóws verlangen. Was kaum jemand wirklich tut.
Vorläufig ist die Sache entschieden: Wenn kein gegenteiliges Gerichtsurteil, kein politischer Schwenk mehr kommt, wird Turów bis 2044 weiterlaufen. Es wird weiterhin Lärm geben, Staub und Schmutz, hoffentlich ausreichend Grundwasser und keine Umweltkatastrophen. Aber auch Tausende Jobs und verlässlich fließende Energie, in Zeiten wie diesen dringender benötigt denn je.

Die Fotos dieses Textes stammen von Marina Pepaj.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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