Ein Plädoyer für Europa - „Europas Genius lebt und webt in Landschaften“

Eine Reise durch Europa ist wie der Gang durch eine reiche Ausstellung – hinter jeder Ecke eröffnet sich ein neues Bild. In seiner Liebeserklärung an Europa beschreibt Reiseschriftsteller Wolfgang Büscher, wie der europäische Geist von den Landschaften des Kontinents geprägt ist

Europas blühende Landschaften / Illustration: Martin Haake
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Autoreninfo

Wolfgang Büscher, Jahrgang 1951, ist Reiseschriftsteller und Reporter. Sein Buch „Berlin Moskau. Eine Reise zu Fuß“ war ein Bestseller.

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Eine Lobeshymne auf Europa? Das mag in Zeiten des Brexit anachronistisch anmuten. Aber gerade jetzt braucht es Europäer, die daran erinnern, was diesen Kontinent lebenswert macht und warum wir die Europäische Union brauchen. Bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Cicero in seinem Jubiläumstitel die leidenschaftlichen Plädoyers zehn namhafter Autoren. Diese Texte aus unserem Archiv möchten wir in den kommenden zwei Wochen mit Ihnen teilen.
Für den zweiten Teil unserer Europareihe schreibt Reporter und Reiseschriftsteller Wolfgang Büscher über Europas Landschaften:

Die romantische Vorstellung vom Reisen geht dahin, es erweitere das Bewusstsein, und der Reisende kehre stets fremder heim, als er losgezogen sei. Das ist auch nicht ganz falsch. Und doch kann ich sagen, von jeder großen Reise bin ich europäischer heimgekommen, als ich loszog.
Ein Blick auf den Globus ist deprimierend. Er zeigt Europa als verzipfelte, ausfransende Warze am eurasischen Großkontinent. Aber der Astronautenblick sieht das Wesentliche nicht. Was so klein und zerklüftet ausschaut, ist Europas unverwechselbare Stärke. Nur hier herrscht nicht die Wucht schierer Fläche und Masse. Nur hier hat sich, begünstigt von einem lebensfreundlichen Klima, ein unglaublicher Reichtum des Besonderen herausgebildet. Und mir scheint, die Landschaft hat starken Anteil daran. Dass die Schweizer anfingen, Uhren zu bauen, die besten der Welt, hat etwas mit ihren Tälern zu tun. Dass die Italiener Kleidung herstellen, die beste der Welt, hat etwas mit Städten zu tun, in denen man Lust hat, sie auszuführen. Und dass die Deutschen Autos bauen, die besten der Welt, hat etwas mit den Bewegungsgesetzen unserer kontinentalen Zentrallage zu tun. Die Reihe ließe sich lange fortsetzen.

Der weinige Westen, die bierige Mitte, der schnapsige Osten


Europas Genius lebt und webt in Landschaften. Es gibt Landschaften der Renaissance, solche der Reformation und katholisch durchbildete Landschaften. Es gibt Magna-Graecia-Küsten mit uralten Handelsstädten und karge Gegenden, die Konquistadoren brüteten. Es gibt die Wein-, Bier- und Schnapsbreiten, sie teilen Europa entlang von landschaftlichen so gut wie kulturellen, ja religiösen Meridianen: der weinige Westen, die bierige Mitte, der schnapsige Osten. Und das sind nur die allergröbsten Striche eines ungeheuer fein gezeichneten Bildes.
Karl Marx hat von der asiatischen Despotie gesprochen. Nachdem ich durch die Große Kasachensteppe gefahren bin, durch die Gluthitze des Persischen Golfes und andere Zonen von mächtiger Monotonie, denke ich, es gibt auch eine Despotie solcher Landschaften. Eine Despotie der Sonne, des Staubes, der Tropen. Es gibt Entsprechungen zwischen Staats- und Landschaftsformen. Ich vermag mich nicht darüber zu wundern, dass der deutsche Rechtsstaat oder die italienische Stadtrepublik nicht in der arabischen Wüste entstanden sind.

Eine unfassbar reiche Ausstellung


Durch die gewaltig-monotonen Landschaften der Großkontinente zu reisen, hat seine Magie und Schönheit, ich möchte sie nicht missen. Aber es bleibt eine Reise durch ein einziges so monströses wie grandioses Bild. Durch Europa zu reisen, ist etwas radikal anderes. Es heißt, Bilder über Bilder zu sehen, hinter jeder Biegung des Flusses, der Autostrada ein neues – durch eine unfassbar reiche Ausstellung zu gehen, von Saal zu Saal, und in jedem wechseln Licht, Farben, Motive.


Die europäische Malerei, Musik, Literatur, sie konnten nur hier entstehen, in diesem von Natur und Mensch in Jahrtausenden durchgeistigten, durchgearbeiteten Weltwinkel. Das ist Europas Charme und Genius – das Durchgearbeitete, wieder und wieder. Eine Dignität der Erinnerung, die das Neue sät, nicht erstickt. Das geht nicht in der Steppe, in der Wüste, in der Prärie, das geht nur hier. Aus all dem heraus lebe, träume, schreibe ich, auch wenn ich fern davon bin.

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