Osteuropapolitik - „Die konfrontativen Kräfte in Russland sind auf dem Vormarsch“

Heute präsentiert Angela Merkel in Brüssel das Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Zu den großen Herausforderungen dürfte auch die Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Mitgliedsländern gehören. Ist Deutschland dieser Aufgabe gewachsen?

„Das Coronavirus hat neue Bündnisse zwischen Ost und West aufgebracht“/ dpa
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Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Manuel Sarrazin sitzt als Abgeordneter für die Grünen im Deutschen Bundestag und ist Sprecher für Osteuropapolitik. Sarrazin ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. 

Herr Sarrazin, „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“, heißt das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Wie glaubwürdig ist die Betonung der Gemeinsamkeit, wenn Deutschland wegen Nord Stream 2 von den östlichen EU-Partnern sehr kritisch betrachtet wird?
Das Projekt Nord Stream 2 hat die Glaubwürdigkeit Deutschlands schon sehr stark beeinträchtigt, vor allem in Bezug auf das Einhalten von europäischen Regeln und der Betonung des europäischen Zusammenhalts. Gleichzeitig ist mein Eindruck aber auch, dass in Zentraleuropa die deutsch-französische Einigung für den Recovery Bond und für die Krisenbewältigung in Fragen Corona sehr gut angekommen ist, und dass das Coronavirus in dieser Frage neue Bündnisse zwischen Ost und West aufgebracht hat. Und dass die Glaubwürdigkeit in Bezug auf ein Zusammenhalten in der akuten Krise deutlich größer geworden ist, als sie es vor der Krise vor allem wegen Nord Stream noch war. 

Außer der Bewältigung der Coronakrise gibt es mit dem zukünftigen EU-Haushalt ein weiteres wichtiges Thema. Mit Blick auf die Situation in Polen und Ungarn gibt es seit längerer Zeit Forderungen, zukünftige EU-Gelder an die Rechtsstaatlichkeit zu binden. Was halten Sie davon?
Es ist eine gute Sache, wenn man sagt: Es gibt eine Verbindung zwischen der Einhaltung von Zielen und Werten der Europäischen Union mit den Instrumenten des EU-Haushalts. Die müssen allerdings so ausgestaltet sein, dass sie für alle Mitglieder gleich sind. Und falls ein EU-Mitglied das Gefühl hat, ungerecht behandelt zu werden, muss es natürlich ebenfalls die Möglichkeit geben, dagegen vorzugehen. Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir es hinkriegen, über ein solches Instrumentarium die Argumente bei den Themen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stärken. Allerdings bin ich nicht besonders optimistisch, dass dieses Instrument bei den Verhandlungen am Ende auch durchsetzbar sein wird.

Sollte Berlin, vor allem auch während der Ratspräsidentschaft, diesbezüglich auf die europäischen „Sorgenkinder“ Polen und Ungarn einwirken?
Die Möglichkeiten, aus Deutschland heraus auf Herrn Orban und Herrn Kaczyński einzuwirken und dadurch bezüglich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beide von ihren Kursen abzubringen, sind sehr gering. Trotzdem ist es wichtig, dass man an diesen Stellen klar benennt, was man sieht und was man davon hält. Gleichzeitig ist es so, dass Ungarn und vor allem Polen, welches sich im Artikel-7-Verfahren befindet, in einem Konflikt mit der EU befinden, weshalb die EU-Kommission, der Europäische Rat und der Europäische Gerichtshof als EU-Institutionen die eigentlich zuständigen Stellen in diesem Konflikt zwischen Polen und der EU sind.

Und was kann Deutschland tun?
Deutschland als Mitgliedsstaat kann die Institutionen in diesem Fall nur unterstützen, aber es sollte nicht so tun, als ob es sich um eine bilaterale Frage handeln würde. Wie das Justizsystem in Polen aussehen soll, ist keine Frage der deutschen Staatsräson, sondern eine Frage der europäischen Werte und des Zusammenhalts in der Europäischen Union. Und deswegen hat Deutschland daran ein Interesse.

Ein weiteres großes Thema ist momentan der Tönnies-Skandal, der die tragische Situation osteuropäischer Werksarbeiter in den Vordergrund gestellt hat. Wäre es nicht eine gute Gelegenheit, wenn Deutschland die Ratspräsidentschaft dazu nutzen würde, dieses seit Jahren existierende Problem auf die europäische Bühne zu heben?
Es ist wünschenswert, dass man die Arbeitsbedingungen von Menschen, die hier zum Arbeiten herkommen, sei es in den Fleischfabriken aber auch im Agrarbereich, offensiv thematisiert und sicherstellt, dass die Menschen nicht mehr in Situationen geraten, in denen ihre Gesundheit gefährdet ist und ihre Menschenwürde missachtet wird. Hier gibt es Regelungsbedarf im deutschen Recht, aber auch zwischen den verschiedenen Staaten. Daran sollte die Bundesregierung arbeiten.

Bei dem Westbalkan-Gipfel Anfang Mai verpflichtete sich die EU zu milliardenschweren Finanzhilfen für die Staaten des Westbalkans. Auch deren EU-Beitritt nimmt Formen an. Sind Staaten wie Serbien aber auch politisch soweit?
Die EU muss bemerken, dass sich in Serbien aber auch in anderen Staaten der Region, bestimmte Logiken verschoben haben. Die Regierungen bleiben zwar insgesamt auf dem Treck Richtung Europäische Union, aber deren Glaubwürdigkeit, die dafür notwendigen Reformen anzutreiben, ist jedoch gering. Rechtsstaatlichkeit, freiheitliche Rechte aber auch die Demokratie, haben da in den letzten Jahren eher abgenommen.

Was ist mit den Parlamentswahlen in Serbien?
Die im Juni stattgefunden Parlamentswahlen in Serbien waren eher ein Beispiel für den Verlust der Glaubwürdigkeit als der Beweis für eine lebendige, plurale demokratische Kultur. Deswegen muss die EU hier umsteuern und mehr in den direkten Kontakt mit der Zivilgesellschaft und lokalen Initiativen treten und sich nicht nur auf den Kontakt mit den Regierungen und den jeweiligen Parlamenten beschränken. 

Mittlerweile schon ein Dauerthema ist die Annäherung zwischen der EU und der Ukraine, wo im Donbass die Waffen weiterhin nicht schweigen und die notwendigen Reformen auch unter dem als Reformer angetretenen Präsidenten Selenskij stocken. Welche Anreize können die EU aber auch Deutschland nach Kiew senden, um diese in Schwung zu bringen?
Ganz wichtig ist es, dass Deutschland in den Normandie-Verhandlungen eine ganz klare Linie vertritt und damit Selenskij in gewisser Hinsicht den Rücken freihält, aber sicherlich auch Grenzen aufzeigt, wenn es um die Frage geht: Könnte es einen schmutzigen Deal bezüglich der Wahlen in den sogenannten Volksrepubliken geben? Dieser würde nicht gewährleisten, dass diese fair, frei und vor allem ohne russische Waffen stattfinden würden. Hier ist wirklich Klarheit wichtig, was ganz entscheidend ist für die Glaubwürdigkeit Deutschlands in der Ukraine.

Wie steht es mit dem Reformprozess in der Ukraine?
Deutschland ist unglaublich engagiert im Reformprozess der Ukraine. Wir haben viele Möglichkeiten, die Reformen anzustoßen. Dazu gehört aber auch, dass man dem Präsidenten ein klares Wort sagt, wenn beispielsweise Reformkräfte wie der ehemalige Generalstaatsanwalt entlassen werden oder nun der Chef der ukrainischen Nationalbank wegen politischen Drucks zurückgetreten ist. Das sind sehr besorgniserregende Zeichen und hier muss Deutschland klar an Selenskij adressieren, dass man von ihm erwartet, auf dem Reformkurs zu bleiben.

Wäre langfristig gesehen ein EU-Beitritt der Ukraine wünschenswert?
Meine persönliche Auffassung, aber auch die meiner Partei ist, dass wir eine europäische Perspektive für die Ukraine brauchen. Dies würde letztlich das politische Gewicht bringen, um die ukrainische Politik zu den notwendigen Reformen zu bewegen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ohne so eine Beitrittsperspektive man die Politik in der Ukraine nicht dauerhaft überzeugen wird. Allerdings ist aber auch klar, dass es ein sehr langer Weg wäre und es sich dabei eher um eine in Jahrzehnten liegende Vision handeln würde, als um eine konkrete Aussicht eines schnellen EU-Beitritts.

Was Russland angeht, unterscheiden sich die Interessen Deutschlands zum Teil von denen anderer EU-Staaten. Was würden sie sich wünschen bezüglich Deutschland, der Europäischen Union und der Beziehungen zu Russland? Immerhin haben Sie jüngst die Reaktion der Bundesregierung auf den Mord im Tiergarten stark kritisiert.
Dass die Bundesregierung den russischen Botschafter nicht einmal einbestellt hat und diese auch sonst keinerlei Konsequenzen folgen lässt, obwohl die Bundesanwaltschaft in der Klageschrift feststellt, die russische Zentralregierung habe aus politischen Motiven einen Auftragsmord mitten im Tiergarten ausführen lassen, in Sichtweite des Bundestagsgebäudes, halte ich für einen absoluten Skandal. Das signalisiert nur der russischen Seite, dass wir es als normal hinnehmen, wenn bei uns Menschen ermordet werden, die hier Schutz vor politischer Verfolgung gesucht haben.

Welchen Einfluss nimmt Putins Verfassungsreferendum?
Das jetzt abgehaltene Verfassungsreferendum mit dem ewigen Präsidenten Putin, der damit eingeführt wurde, offenbart nicht eine Stärke, sondern nur die Schwäche des von Putin geschaffenen Systems. Und die Schwäche des Systems wird einerseits dazu führen, dass Putin sich nicht kompromissfähig bezüglich des Konflikts in der Ukraine zeigen wird, gleichzeitig aber auch der repressive Kurs im Inneren und die Konfrontation mit dem Westen als Topos für die Mobilisierung der Menschen in Russland selber eher zunehmen wird.

Was bedeutet das für die Beziehungen zur EU?
Das wird nicht zu einer Entspannung des Verhältnisses zwischen Russland und der EU führen. Meiner Ansicht nach sind die konfrontativen Kräfte in Russland klar auf dem Vormarsch. Darauf sollte man sich einstellen und man sollte nicht den Fehler begehen und glauben, ohne eine eigene klare Haltung und Position könnte man mit Russland ein besseres Verhältnis haben. Zudem sollte man sehr genau hingucken, wie sich in Russland die Menschenrechtslage und die Zivilgesellschaft in Russland weiterhin entwickelt. Und die ist dramatisch.

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