Todkranker Kreml-Kritiker in Berlin - Was hatte Nawalny im Tee?

In der Charité in Berlin kämpfen Ärzte um das Leben des mutmaßlich vergifteten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny. Erst auf politischen Druck hat ihn Russlands Präsident Putin ausfliegen lassen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Kanzlerin.

In der Charité kämpfen Ärzte um sein Leben: Kreml-Kritiker Alexej Nawalny / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

So erreichen Sie Antje Hildebrandt:

Anzeige

Es war Samstagmorgen um 8.47 Uhr, als in Berlin-Tegel ein Spezialflugzeug in besonderer Mission aus Omsk landete. An Bord: ein Passagier, der das ohnehin angespannte Verhältnis der Bundesregierung zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf eine harte Probe stellen könnte. Denn wenn es stimmt, was die Sprecherin von Alexej Nawalny sagt, wurde er vergiftet.

Nawalny gilt als Russlands profiliertester Kreml-Kritiker. Er ist Investigativjournalist und Aktivist zugleich. Auf Youtube werden seine Filme über Korruption und den unerklärlichen Reichtum von Regierungsmitgliedern millionenfach geklickt, besonders gern von jungen Menschen. Das macht ihn in seiner Heimat zum Staatsfeind. Der Welt am Sonntag hat er 2018 gesagt, er werde vom Geheimdienst verfolgt.

Notlandung nach einer Tasse Tee 

Waren ihm auch Agenten auf der Spur, als er Ende vergangener Woche von Moskau nach Sibirien flog, um seine Anhänger dazu aufzurufen, bei den bevorstehenden Regionalwahlen den Kandidaten mit der größten Chance gegen die Regierungspartei zu wählen?

Fakt ist, dass die Moskauer Boulevardzeitung Moskowski Konsomolez einen Artikel veröffentlicht hat, der „detailgetreu alle seine Bewegungen bei seiner Reise durch Sibirien beschrieb“. Wurde er von den Journalisten beschattet? Auf dem Rückflug nach Moskau sei Nawalny plötzlich schlecht geworden, sagt seine Sprecherin Kira Jarmysch, die ihn begleitete. Seine Maschine musste notlanden, denn er verlor das Bewusstsein. Dabei hätte Nawalny vor dem Abflug gar nichts zu sich genommen, nur schwarzen Tee, sagt Jarmysch.

Zwei russische Agenten, getarnt als Schwulenpärchen 

Sollte es sich um Gift handeln, wäre es nicht der erste Anschlag auf einen Kreml-Kritiker. 2006 starb der russische Ex-Spion und Regierungskritiker Alexander Litwinenko an einer Vergiftung durch Polonium im Tee. Im Fall des früheren Doppelagenten Sergej Skripal verwendeten die Täter im britischen Salisbury 2018 Nervengift.

Mithilfe der Bilder einer Überwachungskamera konnte die britische Polizei im Fall Skripal zwei Mitarbeiter des Geheimdienstes GRU identifizieren. Gefasst wurden sie nie. Der russische Propaganda-Sender RT sprach von einem schwulen Pärchen, das zum Fitnessgeräte-Shoppen nach  London gereist wäre und nur einen Ausflug nach Salisbury unternommen hätte, um sich anglikanische Kathedralen anzuschauen. 

Der Kreml wünscht „baldige Genesung“ 

Nawalny selbst war schon zweimal Opfer eines Anschlags. 2017 wurde ihm Farbe ins Gesicht geschüttet; er verlor beinahe ein Auge. 2019 kam er mit geschwollenem Gesicht und geröteter Haut aus einer Krankenhausarrestzelle, wo er 30 Tage in Haft gesessen hatte, weil er zu Protesten gegen manipulierte Wahlen in Moskau aufgerufen hatte. Schon damals sprach seine Ärztin von einer „Vergiftung“.

Der Kreml hat seinem ärgsten Kritiker offiziell „baldige Genesung“ gewünscht und angekündigt, sollte er vergiftet worden sein, werde es eine Untersuchung geben. Darauf wollte sich Alexei Nawalnys Familie jedoch nicht verlassen. Inoffiziell hatte die Regierung schon verkündet, Nawalny habe wohl am Vorabend getrunken und selbst etwas eingenommen. Vertrauen weckte das nicht. Auf der Intensivstation des Krankenhauses in Omsk soll es mehr Polizisten als Ärzte gegeben haben.

Der Fall Nawalny bringt Putin in die Bredouille  

Ein Kardiologe, der ihn gut kennt, riet der Familie Nawalnys, ihn nach Deutschland zu evakuieren. Er traute den Ärzten nicht zu, bei der Suche nach der Wahrheit zu helfen. Tatsächlich wollten die ihn zunächst nicht ausfliegen lassen. Und es gilt als fraglich, ob ihre Kollegen in Berlin das Gift jetzt noch im Körper des Kreml-Kritikers nachweisen können. Erst auf politischen Druck stimmten sie einer Evakuierung zu. Nawalnys Frau Julia hatte an Präsident Putin appelliert, ihren Mann fliegen zu lassen.  

Der reagierte aber erst, nachdem der finnische Präsident Sauli Niniistö interveniert haben soll – nach einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hatte angeboten, den Kreml-Kritiker in Deutschland behandeln zu lassen. Konfrontiert mit dieser Zusage, soll Putin sein Okay gegeben haben. Das Spezialflugzeug hat die private Initiative „Cinema for Peace“ gechartert. 

Sie zeichnet seit 2002 regelmäßig Künstler aus, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Ihr Gründer, der in Slowenien geborene Filmproduzent Jaka Bizilj, hat vor zwei Jahren schon den Krankentransport für den Kreml-Kritiker Pjotr Wersilow nach Berlin organisiert, der ebenfalls Opfer einer mutmaßlichen Vergiftung geworden war. Wersilow, Mitglied der Künstlergruppe „Pussy Riot“, habe Bizilj jetzt um Hilfe für Nawalny gebeten, heißt es bei Cinema for Peace

Der „Tiergarten-Mord“ und seine Folgen  

Der Fall Nawalny bringt den russischen Präsidenten in eine brisante Lage. Schließlich sind die deutsch-russischen Beziehungen schon durch den „Tiergarten-Mord“ erheblich belastet: Am 23. August 2019 war ein Georgier tschetschenischer Herkunft, der einst im Kaukasus gegen die Russen gekämpft hatte, offenbar von einem Auftragskiller erschossen worden.

Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass der Mann im Auftrag der russischen Regierung gehandelt hat. Sie spricht von „staatlichem Terror“. Ein Vorwurf, den Russlands Außenminister Sergej Lawrow als „haltlos“ zurückgewiesen hat. Durch die Evakuierung Nawalnys nach Berlin ist die Bundesrepublik jetzt zum Anwalt des Kreml-Kritikers geworden. Könnte sich Putin eine zweite Untersuchung wegen staatlichen Terrors leisten?

Wie sicher ist Nawalny in Deutschland? 

Nawalny wird jetzt in der Charité behandelt. Er liegt immer noch im Koma. Sein Gesundheitszustand gilt als kritisch, aber stabil. Nach dem Bericht in der Welt am Sonntag dürfte es schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden, dem Kreml eine Beteiligung a einer möglichen Vergiftung nachzuweisen.

Die Zeitung beruft sich auf die russische Politikwissenschaftlerin Tatiana Stanovaya. Sie sagt, es gebe keine klare Grenze mehr zwischen Geheimdienstlern und Aktivisten. „Wir können annehmen, dass die Instrumente der Geheimdienste von jenen outgesourct werden, die keinen Status oder Legitimität haben, aber dennoch als informelle staatliche Akteure auftreten.“

Es ist eine beunruhigende Erkenntnis. Denn wenn Nawalnys mutmaßliche Vergiftung nicht von oben angeordnet wurde, wie sicher ist er dann in Deutschland?   

Anzeige