Nationalismus - Schutz und Regeln

Vielerorts wird heute vor dem zunehmenden Nationalismus gewarnt, oft in einem Atemzug mit Autoritarismus oder Fremdenfeindlichkeit. Dabei ist die Ausbreitung nationalistischen Gedankenguts nicht Ursache, sondern Symptom wachsender Instabilität

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Die Finanzkrise von 2008 wirkt bis heute weltweit nach / picture alliance
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Autoreninfo

Jacob L. Shapiro ist Director of Analysis beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures mit Sitz in Austin, Texas.

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Mit dem Begriff des Nationalismus werden derzeit zwei stark verkürzende Bilder verbunden. Das erste handelt vom „Aufstieg des Nationalismus“. Danach ist der Nationalismus eine Art atavistischer Zauber, dem schon mehrere Segmente der Gesellschaft verfallen sind. Er entstehe spontan, heißt es, und infiziere die Gedanken von Menschen, die für die Vorstellung einer ethnischen oder religiösen Überlegenheit empfänglich sind. Sei er erst entfesselt, lasse er sich kaum noch aufhalten und ende häufig im Krieg und in der globalen Katastrophe. Zum Zweiten wird der Nationalismus in einem Atemzug mit Begriffen wie Autoritarismus, Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit genannt, als seien sie synonym zu verstehen. Nationalismus wäre demnach nur eines von vielen Konzepten in jenem „Korb der Erbärmlichen“, in dem Hillary Clinton Trumps Wähler verortet hat.

Es gibt ihn durchaus, den Aufstieg des Nationalismus, doch die Ausbreitung nationalistischen Gedankenguts ist häufig nicht Ursache, sondern Symptom wachsender Instabilität. Der Nationalismus nahm seinen Anfang in der Amerikanischen und Französischen Revolution, entwickelte sich jedoch als Ideologie erst im Europa des 19. Jahrhunderts zu einer politischen Kraft. Nicht zufällig gewann der Nationalismus im Zuge der massiven wirtschaftlichen Verwerfungen durch die industrielle Revolution an Einfluss. Nachdem zunächst in Großbritannien in der Textilherstellung Fabriken kleine Manufakturen ersetzt hatten, breitete sich die Industrialisierung bald über den gesamten Kontinent aus. Sie krempelte die Familienstrukturen und das Leben der Arbeiter völlig um und drängte die Menschen in großer Zahl von den Bauernhöfen in die rasch wachsenden Städte.

Praktisches Werkzeug der Aufklärung

Die industrielle Revolution markierte einen radikalen Bruch. Unter ihren zahlreichen Folgen stachen zwei besonders hervor, nämlich die Schwächung der Sicherheit des Individuums und der Stabilität der politischen Gesellschaft. Nicht zufällig kristallisierte sich in einer Zeit, in der die traditionelle Rolle des einzelnen Arbeiters auf den Kopf gestellt wurde, ein neues Konzept vom inhärenten Wert des Individuums heraus. Das Individuum, hieß es, habe grundlegende Menschenrechte, die von diversen Königen, Zaren und aufgeklärten Despoten der Zeit nicht ausreichend gewürdigt würden. Deshalb musste eine neue Form der politischen Organisation gefunden werden, die auf einem Sozialvertrag zwischen den Herrschenden und den Beherrschten gründete. Ein wichtiger Passus dieses Vertrags besagte, dass Herrscher ersetzbar sind. Der Nationalismus war ein integraler Bestandteil dieser Ideologie. Er stellte den hehren Idealen der Aufklärung praktische Werkzeuge an die Seite, damit auf der Basis dieser Prinzipien neue politische Regierungssysteme entwickelt werden konnten. Zwar hatte das Individuum seine Identität und Sicherheit eingebüßt, doch die Nation gab dem Leben der einzelnen Bürger neuen Sinn.

Ein weiterer Höhepunkt des Nationalismus, der häufig angeführt wird, erschütterte die Welt zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Die Narben dieser Kriege sind noch frisch, doch verursacht wurden sie nicht vom Nationalismus. Die Menschen, die durch eine Phase extremer wirtschaftlicher Umbrüche gingen, ordneten ihre Erfahrungen unter anderem mithilfe des Nationalismus ein. Die Jahre vor Hitlers Machterlangung waren beherrscht von einer Weltwirtschaftskrise, die besonders Deutschland in die Knie zwang und sich weltweit am heftigsten auf die Arbeiterklasse auswirkte, die von den wirtschaftlichen Verwerfungen mit geballter Wucht getroffen wurde. Zur ökonomischen Instabilität kam der Vertrag von Versailles, der nicht etwa den Frieden unter Gleichen wahren, sondern Deutschland dauerhaft lähmen sollte. Ein Machtungleichgewicht prägte die Beziehungen zwischen den wichtigsten Staaten Europas (und Asiens). Und Deutschland, nach der vorangegangenen Niederlage gedemütigt, fürchtete sich vor einer Zukunft, in der es den Franzosen und anderen historischen Antagonisten in seiner Nachbarschaft schutzlos ausgeliefert war.

Legitimation für autoritäre Herrscher

Wenn wir heute vom Aufstieg des Nationalismus reden, meinen wir in Wahrheit, dass die Welt an Stabilität verliert und der Nationalismus infolgedessen an Bedeutung gewinnt. Die Finanzkrise von 2008 wirkt bis heute weltweit nach. Sie manifestiert sich in trüben Wachstumsaussichten für Exportländer, in der Unfähigkeit der Europäischen Union, eine stringente europaweite Strategie für die Bewältigung der Krise zu entwickeln, in der abnehmenden Kaufkraft der Mittelschicht und der unteren Mittelschicht in den Vereinigten Staaten, in den von der Globalisierung beschleunigten wirtschaftlichen Verwerfungen und im Jobverlust, der die Arbeiter schlimmer trifft als alle anderen gesellschaftlichen Schichten. Die USA sind derzeit die einzige Weltmacht, und ihre Möchtegernrivalen sind allesamt zu schwach, um es mit ihnen aufzunehmen. Die daraus resultierende Angst können die Staatschefs dieser Länder nutzen, um im Kampf gegen die wirtschaftlichen Probleme im Inland ihre Legitimation zu festigen. Dies wiederum untergräbt die Legitimation internationaler Institutionen, denn vielen wird klar, dass, wenn alle verantwortlich sind, am Ende keiner Verantwortung übernimmt. Folgerichtig ist jeder darauf aus, die ihm verbliebene Macht über das Schicksal des eigenen Landes zu behaupten.

Dieses Bestreben ist für sich noch nicht autoritär, chauvinistisch oder fremdenfeindlich und mündet auch nicht zwangsläufig in bewaffnete Auseinandersetzungen. Nationalismus und Autoritarismus können aber Hand in Hand gehen wie etwa in Russland und China. Beide Länder zeichnen sich durch ihre riesige Fläche, die Vielzahl verschiedener Ethnien und ein großes Wohlstandsgefälle zwischen den Reichsten und den Ärmsten aus. Dass Russland und China von Zaren und Kaisern beherrscht wurden und bis heute den Übergang zu einer liberalen Demokratie nicht vollzogen haben, ist kein Zufall. Aber schuld daran ist nicht der Nationalismus. Der Nationalismus stärkt die Legitimität des Autoritarismus, so, wie er in liberalen Demokratien die Bürger zusammenschweißt. Das Konzept des Nationalismus mündet nicht zwangsläufig in Kriege oder bewaffnete Konflikte. Schon lange, bevor die Menschen den Nationalismus erdachten, zogen sie für Herrscher, Könige, Clans und Pharaonen in den Krieg. Machtungleichgewichte, Ressourcenknappheit, Angst und Misstrauen gegenüber Nachbarn sind allesamt stärkere Faktoren für einen Krieg als Nationalismus. Im Kriegsfall dann lässt sich der Nationalismus ideologisch hervorragend darauf aufsetzen. 

Die zwei Seiten der Medaille

Das soll nicht heißen, dass der Nationalismus – oder jede andere Ideologie – besonders nach Kriegsausbruch einen Konflikt nicht massiv verschärfen kann. Auch lassen sich die teilweise extremen Folgen des Nationalismus im Inland nicht leugnen. Die Nation kann als einigendes Prinzip dienen, doch im Umkehrschluss müssen Regeln dafür aufgestellt werden, wer als Teil dieser Nation gelten darf und wer nicht. Bei der aktuellen wirtschaftlichen Schieflage in der Welt kann sich das in aggressivem Verhalten gegenüber Einwanderern oder Kriegsflüchtlingen äußern. Aus der Gegenperspektive stellt sich das freilich anders dar: Die Bürger einer Nation wollen das Ihre schützen, und anderen steht, so bedauerlich das sein mag, dieser Schutz nicht zu; warum sollte sich also eine Nation um Flüchtlinge kümmern, zumal, wenn daraus eine spürbare Bedrohung entsteht?

Gesellt sich übermäßiger Nationalismus zu politischer und sozialer Instabilität, kann das den Aufstieg eines Regimes wie des Dritten Reiches begünstigen. Zu wenig Nationalismus dagegen kann eine Situation herbeiführen, wie wir sie derzeit in Syrien beobachten. „Syrien“ ist eine Erfindung, eine gedankenlose Schöpfung des europäischen Imperialismus. Als 2011 in Syrien sämtliche Nähte platzten, breitete sich eine verwirrende Vielzahl von Rebellengruppen aus, die bis heute ebenso erbittert gegeneinander kämpfen wie gegen das Regime von Präsident Baschar al Assad. Die humanitäre Katastrophe von Aleppo gemahnt daran, dass die internationale Gemeinschaft ihr Versprechen – „Nie wieder!“ – nicht gehalten hat. Die nationale Selbstbestimmung wurde in der Charta der Vereinten Nationen nicht nur als Prinzip verankert, sondern sie ist in der modernen Welt für politische Gemeinwesen auch auf Gedeih und Verderb die beste Methode der Machtsicherung. Der Aufstieg des Nationalismus macht im Westen viele nervös; die syrischen Rebellen in Aleppo hätten wohl gern ein bisschen von diesem Nationalismus ab.

Es bleibt ein Kartenhaus

Nationalismus ist letztendlich eine Ideologie. Ideologien treiben nur selten geopolitische Prozesse an; fast immer läuft es andersherum. Dass der Nationalismus heute im Aufstieg begriffen ist, illustriert, dass fundamentale politische, soziale und wirtschaftliche Verwerfungen bei Individuen und Nationen Unsicherheit hervorrufen und Autoritarismus befördern können, in anderen Fanatismus, doch das alles sind getrennte Phänomene. Vergessen wir nicht, dass ein Aufstieg des Nationalismus nicht von ungefähr kommt, sondern aus Instabilität entsteht, und dass er nicht syn­onym ist mit diversen anderen „Ismen“, die oft in einer großen Kategorie giftiger Ideologien zusammengefasst werden. Die Welt besteht aus Nationalstaaten. Streicht man daraus die Nation, bleibt nur noch ein Kartenhaus übrig.

Aus dem Amerikanischen von Anne Emmert.

 

Dieser Text stammt aus der Februarausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten

 

 

 

 

 

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