Krise der EU - Jetzt muss Berlin ran

Der Brexit ist nicht zwangsläufig der Anfang vom Ende der EU. Angela Merkel warnte davor, schnelle und einfache Schlüsse aus dem Ergebnis zu ziehen. Tatsächlich wird das europäische Dilemma jetzt nicht ohne Berlin zu lösen sein. Ein DGAP-Gastbeitrag

Die EU-Kommission in Brüssel: Das europäische Projekt hat an Strahlkraft verloren. Olivier Hoslet / picture alliance
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Dr. Jana Puglierin ist seit Dezember 2015 Programmleiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der DGAP und Referentin für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung im Deutschen Bundestag.

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Julian Rappold ist Programmitarbeiter des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen der DGAP. Zudem ist er seit 2015 Associate Researcher des European Council on Foreign Relations (ECFR). Er arbeitet schwerpunktmäßig zu den Themen deutsche Europapolitik, Südeuropa (insbesondere Griechenland), Europäische Integration sowie europäische Außenpolitik.

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„Keep calm and carry on“ heißt ein geflügeltes Wort der Briten – ruhig bleiben und weitermachen. Wie kann dieses „Weiter“ aussehen, wenn die verbleibenden 27 EU-Mitglieder nach der britischen Entscheidung, die Union zu verlassen, vor einem zweifachen Dilemma stehen?

1. Dilemma: Bestrafung versus Pragmatismus

Das erste Dilemma heißt: Wie weiter mit dem Vereinigten Königreich? Einerseits gibt es gute Gründe für eine saubere Scheidung, ohne weitere Verzögerung, mit der man ein Exempel statuiert. Der Austritt sollte ein wirklicher Austritt sein; das bedeutet keine Samthandschuhe, keine Sonderbehandlung, keine Rosinenpickerei, wie sie die Briten über Jahre in der EU betrieben haben.

Es gilt, den Preis für den Brexit möglichst hoch anzusetzen, um eventuelle Nachahmer abzuschrecken. Sei es, weil sie sich ebenfalls Sonderkonditionen erhoffen. Sei es, weil sie eine „Mitgliedschaft light“ als ideale Kombination zweier Welten anstreben könnten.

Andererseits kann die EU-27 nicht dauerhaft durch Druck und Zwang gegenüber Dritten zusammengehalten werden. Es gibt mindestens ebenso gute Gründe, die gegen eine solche harte Linie sprechen. Niemand kann sich ernsthaft die Neuauflage der „Splendid Isolation“ des späten 19. Jahrhunderts wünschen. Schließlich sind enge und partnerschaftliche Beziehungen zu der Insel trotz des Votums im Interesse aller EU-Mitgliedstaaten – vor allem, um den wirtschaftlichen Schaden gering zu halten und um das Vereinigte Königreich als Partner in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht zu verlieren. Auch sollte man die Tür zur EU für die Briten nicht voreilig zuschlagen.

Diese beiden politischen Ziele gegeneinander auszubalancieren, verlangt Fingerspitzengefühl auf beiden Seiten. Der Grat zwischen Bestrafung und Pragmatismus ist schmal. Die EU-27 muss hier zunächst in den eigenen Reihen und dann auch mit dem Vereinigten Königreich zeitnah ein gemeinsames Verständnis darüber entwickeln, wohin die Reise gehen soll – um zu vermeiden, dass aus der anstehenden Scheidung ein schmutziger Rosenkrieg wird.

Allerdings haben die britischen Austrittsbefürworter ihren Wählern „blühende Landschaften“ versprochen: einen weiterhin uneingeschränkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt und gleichzeitig ein Ende der EU-Migration. Es ist de facto die Quadratur des Kreises. Dies lässt befürchten, dass ein Einvernehmen über das zukünftige Verhältnis UK-EU – das die 52 Prozent „Leave“-Wähler ebenso wie die nicht zu vernachlässigenden 48 Prozent „Remain“-Wähler zufriedenstellt – im Land des Brexits noch schwerer herzustellen ist als innerhalb der verbliebenen 27 Mitgliedstaaten der Union. Eine schnelle Einigung ist also nicht zu erwarten. Die aktuelle Selbstzerfleischung sowohl bei den Tories als auch bei Labour gibt einen Vorgeschmack. Als hätten die EU und das Vereinigte Königreich keine anderen Sorgen.

2. Dilemma: Integration versus Vertrauensmangel

Wie geht es ohne das Vereinigte Königreich weiter mit der EU? Auch hier gibt es nicht erst seit dem britischen Votum unterschiedliche Vorstellungen, die sich nur schwer zusammenbringen lassen. Überzeugte Europäer, die die Antwort auf die Fragen des 21. Jahrhunderts nicht in mehr Nationalismus, sondern in einem engen, weltoffenen Zusammenarbeiten der europäischen Staaten sehen, können nach dem Referendum nur fordern: Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger. Das gilt besonders im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, wo die liberalen Demokratien des Westens angesichts einer zunehmend autoritären beziehungsweise zerfallenden Nachbarschaft Einigkeit, Widerstandsfähigkeit und auch Schlagkraft herstellen müssen.

Gleichzeitig klingen die Rufe mancher Integrationsbefürworter , als hätten sie den Schuss nicht gehört. Nicht nur in Großbritannien, sondern in allen Mitgliedstaaten sinken die Zustimmungsraten zur Europäischen Union, sowohl was ihre Vertiefung als auch ihre Erweiterung betrifft. Wenn dieses Referendum eines gezeigt hat, dann, dass die Idee einer immer engeren und immer größeren Union nicht mehr aufrechtzuerhalten ist – jedenfalls in ihrer jetzigen Form. Und das nicht nur auf der britischen Insel.

Es wäre ein Fehler, jetzt zu argumentieren, dass die Briten ohnehin nie wirklich Teil der EU waren und sich nun – nach dem Ausstieg des „Bremsers“ – weitere Integrationsschritte ohne größere Widerstände verwirklichen ließen. Das Referendum zwingt auch die EU-27 und die politische Elite in Brüssel, sich einzugestehen, wie sehr das europäische Projekt an Strahlkraft verloren hat.

Stattdessen haben wir es in Europa mit sich polarisierenden Gesellschaften zu tun. Wie sich vor Kurzem auch in Österreich zeigte, stehen sie sich in der Frage nach mehr oder weniger Nationalstaat, Grenzen oder Zuwanderung diametral gegenüber. Der britische Volksentscheid war eben nicht nur eine Entscheidung über den eigenen Verbleib in der Europäischen Union. Er war auch ein weiteres Zeichen für den stetigen Vertrauensverlust in die politischen Eliten Europas.

Und wie weiter?

Es scheint, als könne die EU momentan weder wirklich vor noch wirklich zurück – jedenfalls nicht im siebenundzwanzigfachen Gemeinschaftsschritt. „Keep calm and carry on“ ist theoretisch ein guter Ratschlag, erfordert aber praktisch, dass man sich darüber einig wird, in welche Richtung es gehen kann und soll. Eine mögliche Lösung könnte in einer stärkeren Differenzierung des Integrationsprozesses liegen. Dies darf nicht bloß eine Übergangsphase sein, und ohne den Druck einer „Ever Closer Union“. Die Tür für Nachzügler, die doch irgendwann den nächsten Integrationsschritt wagen wollen, muss offen bleiben. Wichtig wäre dabei, dass die unterschiedlichen Schritte gut miteinander choreografiert sind, um eine Fragmentierung der Union zu verhindern.

Berlin steht besonders in der Verantwortung, Auswege aus den aufgezeigten Dilemmata zu suchen: Es gilt, den Zusammenhalt der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten zu stärken, eine weitere Desintegration zu verhindern, eine gemeinsame europäische Stimme gegenüber dem Vereinigten Königreich zu finden und einen Plan für die Zukunft der EU zu entwickeln. Angesichts der Differenzen ist dies eine Mammutaufgabe, mit ungewissem Ausgang. Dennoch: Deutschland kann es sich nicht erlauben, sich in Zurückhaltung zu üben. Es würde ein Vakuum entstehen, das Europas Rechtspopulisten in die Hände spielt.

Die europäische Schuldenkrise und die Flüchtlingskrise haben gezeigt, dass nicht alle Mitgliedstaaten der Überzeugung sind, dass Berlin für die EU den Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme in den Händen hält. Vielmehr sehen einige europäische Partner – insbesondere im Süden und Osten der EU – im wachsenden Einfluss Berlins einen Teil des Problems.

Berlins Befürchtung ist berechtigt, dass die „deutsche Frage“ – so sie in den Hauptstädten Europas nicht ohnehin schon präsent ist – nun noch viel stärker diskutiert wird. Dadurch könnte die Akzeptanz für deutsche Positionen in der EU weiter sinken. Dies zeigt sich schon jetzt daran, dass im In- und Ausland erste Stimmen laut werden, die Angela Merkel und ihre Politik in der Flüchtlingskrise für den Brexit verantwortlich machen. Berlin sollte deshalb den Schulterschluss mit Paris suchen und das deutsch-französische Tandem für andere europäische Partner wie Italien und – trotz seiner umstrittenen Regierung – Polen öffnen. Es braucht einen breiten Konsens über die jetzt anstehenden, wegweisenden Zukunftsfragen. Neben den traditionellen Kernstaaten Europas sollte Berlin schnellstmöglich auch die Peripherie aktiv einbeziehen.

All das wird allerdings dadurch erschwert, dass Merkels Zustimmungsraten in der deutschen Bevölkerung sinken. Die Kanzlerin kann sich nicht mehr uneingeschränkt auf ihre breite Mehrheit im Bundestag verlassen.

Auch mit Blick auf die wachsende Zustimmung für die rechtspopulistische und euroskeptische Alternative für Deutschland hat sich der europapolitische Gestaltungsspielraum der Bundeskanzlerin deutlich verkleinert. Doch ob die britische Entscheidung den Anfang vom Ende der Europäischen Union einläutet, oder ob der Rest zusammenhält, hängt auch wesentlich von der deutschen Führungsfähigkeit ab.

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