Nach dem Brexit-Referendum - Warum die EU jetzt britischer werden muss

Nach dem Brexit-Referendum reagieren Briten wie Kontinentaleuropäer gleichermaßen kopflos. Doch wer jetzt einen schnellen Austritt Großbritanniens und eine gleichzeitige Vertiefung der Europäischen Union fordert, hat den Schuss nicht gehört

Jetzt mit dem Finger auf andere zu zeigen, bringt nichts. Bild: picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Ein Besuch auf der Insel, zufälligerweise two days after. Ritchie Blackmore hatte zum Konzert nach Birmingham geladen. Ein doppeltes Erlebnis: musikalisch und politisch. Ein Land, geschockt von sich selbst. In Erklärungsnot: Ein Mann aus Liverpool hält sich am nächsten Morgen beim Frühstück noch kurz beim großen Abend und Blackmores arthritisch-missglücktem Gitarrensolo im Opener „Highway Star“ auf, um sich dann ungefragt bei den Besuchern vom Kontinent zu entschuldigen. Es sei so schrecklich, nicht zu fassen, seine Frau sei Dänin, das könne doch alles nicht wahr sein.

Was Briten und Kontinentaleuropäer dann schon wieder verbindet: Sie wissen beide nicht, was sie tun. Erst wussten die Briten nicht, was sie tun. Und dann wussten die übrigen Europäer nicht, was sie tun.

Stammelnde junge Menschen auf den Straßen Londons, die sich vergeblich ärgern, vor lauter Gleichgültigkeit und fahrlässigem Vertrauen in die kollektive Vernunft nicht wählen gegangen zu sein. Ein Boris Johnson, der sich in sein Landhaus zurückzieht, um erst einmal zu verarbeiten, dass das hier nicht einfach nur ein folgenloses rhetorisches Spiel mit seinem alten Widersacher David Cameron war wie seinerzeit auf der gemeinsamen Debattierbühne „Bullingdon Club“, wo die beiden schon in den späten Achtzigern ihre Zungen schärften. Das nun war verdammt ernst, und beide haben Großbritanniens Zukunft dabei aufs Spiel gesetzt. Das immerhin steht dem alten Gambler Johnson unter seinem flachsblonden Wuschelhaar ins Gesicht geschrieben.

Häme, Strafe und billige Genugtuung führen nicht weiter

Ähnlich postpubertär wie auf der Insel aber geht es auch in Europa zu. Kommissionschef Jean-Claude Juncker schwadroniert etwas von einer Scheidung, die jetzt schon schmutzig werden müsse. Man sollte sich ohnehin fragen, ob sich die Europäische Union einen Mann wie Juncker (der auch mal eben Ungarns Premier Viktor Orbán mit dem Führergruß willkommen heißt) als Galionsfigur noch leisten will.

Formulieren wir es so: Wer einen wie Juncker zum Kommissionspräsidenten hat, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Nachbarn wegziehen. Auch Parlamentspräsident Martin Schulz von der SPD legt eine verantwortungslose Mentalität von Siegerjustiz an den Tag, drückt aufs Tempo und verfasst zusammen mit seinem Parteichef Sigmar Gabriel ein törichtes Papier, das nach dem britischen Nein zu Europa eine Vertiefung fordert.

Hier haben einige den Schuss offenbar überhaupt nicht gehört. Haben nicht verstanden, dass Häme, Strafe und billige Genugtuung nicht weiterführen und Vertiefung nicht die Lehre für Europa aus dem Brexit sein kann. Dabei ist ganz klar: Wer hier jetzt das Feingefühl eines gereizten Flusspferds an den Tag legt, zertrampelt Europa noch weiter.

Merkel macht wieder gut, was sie angerichtet hat

Die weitsichtigste Reaktion kam von Angela Merkel, der deutschen Kanzlerin, die nach der unseligen Affekthandlung in der Flüchtlingsfrage vor einem knappen Jahr zur Besonnenheit zurückgefunden hat. Sie gab die Gütige und wies all jene zurecht, die Großbritannien am liebsten schon diese Woche vor die Tür setzen würden, um ein abschreckendes Beispiel für alle anderen zu statuieren, die ebenso versucht sein könnten, dem britischen Vorbild zu folgen.

Damit macht Merkel selbst wieder gut, was sie angerichtet hat. Denn der Brexit ist auch ihr Brexit. Die zeitweilig bedingungslose Aufnahme von Flüchtlingen im Millionenmaßstab hat die Debatte um den Brexit in Großbritannien maßgeblich beeinflusst. Und das Ergebnis mit herbeigeführt.

Merkel hat also die Hecke mit angezündet, aber sie hilft immerhin beim Löschen. Ihre Führung ist gefordert, wieder mal. Denn ausgerechnet der Mann, auf den es neben ihr nun besonders ankommt, spürt den heißen Atem der Brexitfreunde im eigenen Land im Nacken: François Hollande, noch nie ein Held gewesen, sieht sich von Marine Le Pens Front National unter Druck und dringt deshalb auch auf den raschen Brexit und die schnelle politische Bestrafung der Briten. 

Rückbesinnung auf ein pragmatisches Zweckbündnis

Das Gegenteil dessen zu tun, was Juncker, Schulz, Gabriel und Hollande wollen, ist geboten: Die Europäische Union muss nach dem Abgang der Briten britischer werden. Sie muss den Gürtel nicht noch enger um sich schnallen, sondern lockern. Sonst drückt es weitere Länder aus ihr heraus. Die Lockerung muss letztlich der Erkenntnis gehorchen: Der Nationalstaat, das zeigt die zeitgleich zum Brexit laufende Fußball-Europameisterschaft, ist nach wie vor ein kraftvolles und nach der Wahrnehmung der Bevölkerung zeitgemäßes Gebilde.

Die Vereinigten Staaten von Europa, wie sie Winston Churchill in Zürich 1946 (ohne die Briten notabene) gefordert hat, wird es nie geben. Das muss auch einsehen, wer darauf hoffte. Stattdessen ist eine Rückbesinnung auf ein pragmatisches Zweckbündnis anstelle eines pathetischen Projekts erforderlich. Angela Merkel hat immer wieder auf die wichtige Rolle der Briten in dieser Hinsicht hingewiesen. Jetzt, wo es die Briten bald nicht mehr gibt im europäischen Verbund, sollten die verbliebenen 27 sich auf folgende Lehren verständigen.

Erstens: Bis auf weiteres keine neuen Länder in die EU aufnehmen, die vor allem Bürde und nicht Hilfe sind. Es war ein Fehler, die Europäische Union über Jahrzehnte vor allem als Sprungbrett in die Nato, als Cash Cow und als Lehranstalt für junge Demokratien begriffen zu haben und dabei nicht zu sehen, wie das die innere Kohäsion des Bündnisses schwächt.

Zweitens: Die Europäische Union nicht weiter vertiefen, sondern verflachen. Zurückführen auf den Kern: eine kulturelle Wertegemeinschaft, einen gemeinsamen Binnenmarkt, einen gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum, in dem Reisefreiheit herrscht, aber nicht unbedingt damit einhergehende Residenzfreiheit. Auch der Euro und die Eurorettungspolitik dürfen nicht dazu instrumentalisiert werden, die EU quasi durch die Hintertür zu einer Bankenunion oder einer Sozialunion zu vertiefen.

Drittens, und das ist das, was Merkel erkennbar im Blick hat: Eine möglichst enge Anbindung eines künftigen Großbritannien an die Europäische Union, eine Schweizer Lösung. Nur die Anerkennung der ungebrochenen Kraft des Nationalstaates, die Lockerung des Gürtels um den eigenen Bauch und die fast gleichwertige Anbindung von Ländern wie Schweiz, Großbritannien oder Norwegen kann die Europäische Union davor bewahren, dass der Brexit nur der Anfang war.  

Beim Rückflug von Birmingham blieb genug Zeit, am Flughafen ausgiebig englische Zeitungen zu lesen. Erkenntnis: Selbst das hartgesottenste Anti-EU-Boulevardblatt dünstet jetzt Angstschweiß aus. In Berlin angekommen dann nervig langes Schlangestehen bei der Passkontrolle. Vielleicht ist es mit Europa wie mit dem Frieden: Man weiß oft eine Sache erst richtig zu schätzen, wenn sie nicht mehr da ist. Besser ist es, sich das vorher bewusst zu machen.

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