Migrationskrise an der östlichen EU-Außengrenze - „Was kann Frontex groß ausrichten?“

Die Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus hat Anfang dieser Woche eine neue Eskalationsstufe erreicht. Tägliche Provokationen der belarussischen Seite könnten den Konflikt noch verschärfen. Doch ob die EU mit ihren aktuellen Möglichkeiten Polen und auch Litauen unterstützen kann, ist fraglich.

Humvees der polnischen Armee auf dem Weg zum Grenzübergang Kuźnica / dpa
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Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Wojciech Konończuk ist stellvertretender Direktor des Zentrums für Oststudien. Das 1990 gegründete und in Warschau ansässige Institut berät polnische Institutionen über das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, aber auch Skandinavien, dem Balkan, Deutschland, China sowie Israel und der Türkei.  

Herr Konończuk, wenn es um die von dem belarussischen Machthaber Lukaschenko ausgelöste Flüchtlingskrise geht, spricht man seit längerer Zeit von einem „hybriden Krieg“. Kann man jetzt, nach den Ereignissen von Montag an der polnisch-belarussischen Grenze, auch schon von einem Krieg sprechen?

Wojciech Konończuk

Von Krieg sollte man nicht sprechen, aber wenn es um die Situation an der östlichen EU-Außengrenze geht, dann ist der auch von westlichen Politikern benutzte Begriff „hybrider Krieg“ schon richtig. Was Lukaschenko da betreibt, ist eine Form der Aggression gegen die Nachbarstaaten von Belarus und gegen die Europäische Union. Und für diese Form der Aggression missbraucht er Migranten. Man darf nicht vergessen, dass unsere Region im Gegensatz zur Türkei oder dem Balkan nicht zu den natürlichen Fluchtrouten gehört. Stattdessen hat Lukaschenko diese Menschen unter Anwendung falscher Versprechen nach Belarus geholt, um eine Flüchtlingskrise auszulösen, mit der er sich an den westlichen Nachbarstaaten von Belarus rächen kann. Rache für die Unterstützung Polens und Litauens in der belarussischen Zivilgesellschaft. Rache für die Sanktionen, welche die EU nach der Niederschlagung der Proteste im August 2020 verhängt hat. Nun will er die EU durch diese Flüchtlingskrise zu einem Dialog mit seinem Regime zwingen. Dafür nimmt er auch eine humanitäre Krise in Kauf, die durch den nahenden Winter droht. Und es gibt noch einen anderen Aspekt dieser aktuellen Krise an der östlichen EU-Außengrenze. Diese dient Lukaschenko auch als Ablenkung von den Ereignissen in Belarus selbst. Die Repressionen gegen die eigene Bevölkerung haben seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 und den daraus resultierenden Protesten enorm zugenommen. Das ist kein autoritäres Regime mehr, das ist eine Diktatur. Doch darüber wird kaum noch gesprochen, weil die Flüchtlingssituation im Vordergrund steht.

Es gibt Berichte, dass sich in Belarus um die 15.000 Migranten aufhalten sollen und dass diese Migrationskrise unter dem Operationsnamen „Schleuse“ schon vor Jahren vom Lukaschenko-Regime ausgearbeitet wurde. Für wie glaubwürdig halten sie all diese Informationen?

Ob es nun 15.000 Migranten sind, die sich momentan in Belarus befinden und von dort weiter in den Westen gelangen wollen, kann man schwer sagen. Das sind alles nur Schätzungen. Wenn man sich aber anschaut, wie viele Menschen Tag für Tag die Grenze überschreiten wollen, wie viele Flugzeuge täglich aus dem Nahen und Mittleren Osten in Minsk landen, dann kann man davon ausgehen, dass sogar x-Tausende Migranten in Belarus weilen. Die Informationen, dass das aktuelle Geschehen an den Grenzen unter dem Decknamen „Schleuse“ schon vor Jahren ausgearbeitet wurde, halte ich für glaubwürdig. Sie kommen von ehemaligen Angehörigen belarussischer Sicherheitsdienste, die 2020 geflüchtet sind und bis heute zum Teil gute Kontakte nach Minsk haben.

Was sich am Montag in der Nähe des Grenzortes Kuźnica zugetragen hat, war der bisherige Höhepunkt dieser Krise. Befürchten Sie, dass die Lage noch mehr eskalieren könnte?

Leider ja. Schon weil der Winter naht, der hier im Osten nicht so glimpflich verläuft wie bei ihnen im Westen, droht an der Grenze eine humanitäre Krise. Dabei ist eigentlich Belarus für die Versorgung dieser Menschen, die auf die hiesigen Temperaturen gar nicht vorbereitet sind, verantwortlich. Immerhin befinden sie sich auf dem Staatsterritorium des Landes. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich der Konflikt auch politisch noch mehr verschärft. Der polnische Grenzschutz ist regelmäßig Provokationen von belarussischer Seite ausgesetzt. Von Belarus aus wurden schon mehrmals Warnschüsse abgefeuert. Es wurde schon mal ein Granatenwurf auf polnische Grenzsoldaten angedeutet. Auch eine Bombenattrappe wurde bereits gefunden. All diese Provokationen zeigen, wie brenzlig die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze ist und wie sehr es das Regime darauf anlegt, dass diese noch mehr eskaliert. Die Möglichkeit, dass jemand von Polen oder Litauen aus auf Migranten schießt, besteht nicht. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass das Lukaschenko-Regime als Provokation den Vorwurf erheben könnte, Polen oder Litauen hätten auf Migranten geschossen.

Die Krise an der östlichen EU-Außengrenze hat nicht erst jetzt begonnen. War die EU zu lange zurückhaltend, auch mit der Unterstützung für Polen und Litauen?

Man hätte viel früher reagieren müssen. Bereits Ende Mai hat Lukaschenko angefangen, Migranten als Druckmittel gegen Litauen einzusetzen. Ab Juli dann auch gegen Polen und Lettland. Aber was soll zum Beispiel Frontex groß ausrichten? Die längste Grenze mit Belarus hat nicht Polen, sondern mit fast 700 Kilometern Litauen. Das ist eine Grenze, die noch vor wenigen Monaten eine reine Grüne Grenze war, ohne jegliche Grenzbefestigungen, da beide Staaten noch vor 30 Jahren Teil der Sowjetunion waren. Das ist an der polnischen Grenze zu Belarus anders, die früher die Grenze zur Sowjetunion war. Und diese lange Grenze zwischen Litauen und Belarus wird seit Juli von nun zusätzlich 150 Frontex-Grenzbeamten mitbeschützt; Grenzbeamte, die von anderen EU-Partnern, darunter auch 60 aus Polen, in den baltischen Staat entsandt wurden. Im Gegensatz dazu hat Polen momentan circa 20.000 Grenzbeamte, Soldaten und Polizisten an der Grenze zu Belarus im Einsatz. Was die Länder eher brauchen, ist politische Unterstützung, ein gemeinsames Entgegentreten gegenüber Lukaschenko und seinem Regime in Belarus. An der polnisch-belarussischen Grenze wären EU-Beobachter gut, die über die Lage berichten könnten.

Das hört sich so an, als ob eine Lehre aus der aktuellen Krise eine Reform von Frontex sein sollte?

Auf jeden Fall. Frontex hat zwar eine Zentrale, dies auch noch in Warschau, ist aber abhängig von den EU-Mitgliedsländern. Sie sind es schließlich, die auf Nachfrage von Frontex Grenzbeamte entsenden. Dabei denke ich nicht nur an die aktuelle Krise an der polnisch-belarussischen oder litauisch-belarussischen Grenze. Wir haben die Balkanroute, wir haben das Mittelmeer. Eigentlich wäre es da nur konsequent, wenn Frontex auch dauerhaft eine eigene Truppe hätte, die in Krisensituationen schnell eingesetzt werden könnte.

Was wäre bei dieser aktuellen Krise der effektivste und schnellste Schritt, um den Zuzug von Migranten nach Belarus einzudämmen?

Das Problem kann man am besten in den Herkunftsländern der Migranten lösen und in den Staaten, über die sie nach Belarus einreisen. Als die Krise im Sommer an der Grenze zu Litauen begann, kamen die Migranten noch direkt aus Bagdad oder Erbil nach Belarus. Die EU hat es aber noch im August geschafft, dass der Irak diese Direktflüge nach Minsk unterbindet. Doch nun fliegen die Menschen täglich über Istanbul, Beirut, Damaskus und Dubai in die belarussische Hauptstadt. Das kann nur gestoppt werden, wenn man diese Reiserouten nach Belarus durch Verhandlungen der EU mit den entsprechenden Staaten unmöglich macht.

Es gibt bereits Befürchtungen, dass das Lukaschenko-Regime die Fluchtroute in die Ukraine umleiten könnte, von wo aus die Migranten weiter nach Polen und die EU gelangen könnten. Für wie wahrscheinlich halten Sie diese Möglichkeit?

Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass einige der Migranten auf eigene Faust diesen Weg nach Polen nehmen werden. Dass aber das Regime diese bewusst in die Ukraine leiten wird, damit sie dort die Grenze nach Polen überschreiten, ist eher unwahrscheinlich. Dafür sind schon die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine zu groß und für Minsk zu wichtig. Einer der wichtigsten Abnehmer für belarussische Raffinerien, einer der größten Industriezweige des Landes, ist die Ukraine. Sie liefern Diesel und alle anderen möglichen Raffinerieerzeugnisse dorthin. Daher kann ich mir nicht vorstellen, dass das Regime in Minsk diese für das Land so wichtigen Handelsbeziehungen durch eine Verlagerung der Migrationskrise gefährdet.

Welche Rolle spielt Russland in der aktuellen Migrationskrise?

Der Konflikt zwischen Belarus und der EU spielt Moskau in die Hände. Und der Kreml hat auch kein Interesse, dass der Konflikt rasch beendet wird. Denn je mehr er sich verschärft, je schärfer die Reaktionen der EU ausfallen, desto abhängiger wird Lukaschenko von Moskau. Was im Interesse des Kremls liegt, da dieser eine immer engere Union mit Belarus anstrebt und auch forciert. Das Regime von Lukaschenko ist schon jetzt politisch und wirtschaftlich sehr abhängig vom Wohlwollen Putins. Und aktuelle Äußerungen des Kreml, in denen man der EU die Verantwortung für die Situation gibt, zeigen diese Abhängigkeit. Offiziell hat diese Unterstützung für Minsk aber auch ihre Grenzen, da man sich in dem Konflikt auch als Vermittler anbieten und auch versuchen könnte, den russischen Grenzschutz dauerhaft an den westlichen Grenzen von Belarus zu stationieren. All dies wäre für Russland ein außenpolitischer Erfolg.

Die Fragen stellte Thomas Dudek.

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