„Hypervielfalt“ - Die Abschaffung der Schweiz

Der Soziologe Ganga Jey Aratnam will, dass die Schweizer „Hypervielfalt“ als ihre neue Leitkultur begreifen. Dafür soll es sogar Integrationskurse geben - für Einheimische. Ein Traum ökonomischer Globalisten und ideologischer Internationalisten.

Schweizer Europäer müssen in Europa auch nicht anklopfen, findet Frank A. Meyer / dpa
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Frohgemut entwarf Ganga Jey Aratnam (48), Soziologe an der Uni Basel, im Interview mit der Sonntagszeitung ein völlig neues Land: „Die Schweiz sollte die Hypervielfalt als ihre Kultur ansehen. Darauf kann sie auch stolz sein. Die Schweizer Kultur geht nicht verloren, sie entwickelt sich. Der Sozialvertrag des 21. Jahrhunderts ist die Anerkennung der Vielfalt.“

Auf die Frage des Interviewers, ob er nachvollziehen könne, dass dies „einige Alteingesessene“ überfordern dürfte, antwortete Ganga Jey Aratnam freimütig: „Ja, klar. Deshalb finde ich, dass es Integrationskurse für Einheimische geben soll. Wir haben ja bereits Integrationskurse für Zugewanderte. Das ist auch gut so. Für Einheimische sind solche Kurse aber auch nötig, denn sie werden langsam zu einer Minderheit.“

Vision vom neuen Vielfalt-Vaterland

Schweizer lernen also in Zukunft das Schweizersein – wie eingewanderte Türken, Tataren oder Tamilen. Die daraus entstehende gesellschaftliche Mélange wäre dann jene „Hypervielfalt“ die nach Einschätzung des Basler Soziologen übrigens längst „eine soziale Tatsache“ ist.

Man kann die Vision vom neuen Vielfalt-Vaterland auch mit einem eingängigen Sprachbild verdeutlichen: Die Schweiz, wie die Schweizer sie bisher zu kennen glaubten, löst sich auf wie ein Stück Zucker im Tee. Schicksal – faktisch bereits vollzogen, von vaterlandsversessenen Bürgern nur noch nicht richtig verstanden. Ist das so? Wird das so? Ist die Schweiz nichts weiter als die Summe von Ethnien und Kulturen, die sich auf ihrem Staatsgebiet tummeln? 

Wäre dem so, hätte sie nichts Eigenes mehr, nichts von Bestand, nichts mit festen Wurzeln in einer eigenen Geschichte. Von einer solchen Schweiz träumen ökonomische Globalisten wie ideologische Internationalisten: Grenzenlosigkeit für Migranten – qualifizierte Köpfe für Spitzenindustrie und Finanzinstitute, Proletariat fürs Putzen und Pflegen. Es wäre das Ende der Schweizer Geschichte.

Die freisinnige Avantgarde Europas

Was aber war, was ist diese Geschichte? Ein Jahrhunderte andauerndes Ringen um das eigene Bestehen, also darum, dass man nicht aufgehe in anderen, in fremden Mächten. Vertraute Erzählungen – Mythen – führen die Schweizer durch den Werdegang das Landes, bis hin zum Höhepunkt des 12. September 1848, als aus dem Schweizer Staatenbund der Schweizer Bundesstaat wurde. Dies inmitten eines Kontinents der Monarchen und Fürsten.

Die Schweiz war wortwörtlich und tatsächlich die freisinnige Avantgarde Europas. Schritt für Schritt entwickelte sie sich zu einer der modernsten Nationen Europas, zu einer der kompetitivsten der Welt. Es war ein bewahrendes Fortschreiten, ein konservatives Gestalten entlang der Bruchlinien historischer Notwendigkeiten, stets pragmatisch klug, nie planerisch vermessen.

Resultat war – und ist – das radikal republikanische Eigene der Schweizer: ihre Schweiz. Ja, sie ist sehr eigen, diese Republik, weit herum bewundert, aber nirgendwo nachgeahmt – ein Solitär am Gestirn der Nationen. 

Ein technokratisches Wortkonstrukt

Indes, sind nicht auch die anderen Nationen Solitäre? Natürlich verhält es sich mit Spanien und Frankreich und Schweden und Litauen und Ungarn und Österreich ebenso – alle sind sie eigen. Dieses Eigen-Sein, dieser Eigen-Sinn ist der Weltort, an dem sich die Bürger zu Hause fühlen. Es ist Heimat, Vaterland, Muttersprache. Darauf hält man sich etwas zugute als Spanier, als Franzose, als Schwede, als Litauer, als Ungar, als Österreicher. Als Schweizer!

Die schweizerische Vielfalt entspricht der europäischen Vielfalt. Der Schweizer ist Europäer. Und als solcher pflegt er das Erbe seiner Vorvorväter und Vorväter. Nun aber Hypervielfalt? Die ist zunächst ein kaltes, technokratisches Wortkonstrukt. In die Wirklichkeit übertragen wäre sie das Gegenteil der Schweiz, wäre sie die Abschaffung der Schweiz. Sogar die Abschaffung des Schweizers, der sich ja, so die anmaßende Forderung von Ganga Jey Aratnam, in „Integrationskursen“ Migrantenkultur zu eigen machen soll. Das Fremde als das verordnete neue Eigene!

Es geht um Freiheit

Schweizer sind freundliche Gastgeber. Vielleicht sind sie zu vertrauensselig. Wer Gäste zu Tisch bittet, der sollte Autorität ausstrahlen und klarmachen, wie man sich in seinem Hause zu benehmen hat. Das Benehmen, das die Schweiz von Migranten einfordern muss, seien es Milliardäre oder Arbeitnehmer oder Flüchtlinge, ist in Gesetzen niedergelegt. Diese Gesetze sind nicht verhandelbar. Ebenso wenig sind es die Tugenden, die sich daraus ableiten.

Es geht um Freiheit. Es geht um Gleichheit. Es geht um Rechte. Es geht um den mühevoll errungenen und sorgsam gepflegten Wertekanon des Landes, das sich der neu Hinzugekommene zur Zuflucht oder als Zukunft ausersehen hat. Es geht um die Schweizer Leitkultur. Diese Leitkultur aber lässt sich nur bewahren, wenn die Schweiz bestimmt, wem sie Gastrecht gewährt und wem sie das Gastrecht verweigert – weil, wer da anklopft, nicht zu ihr passt. 

Europäer müssen natürlich nicht mehr anklopfen. Richtig ist ebenso: Wir Schweizer Europäer müssen in Europa auch nicht anklopfen. Diese wunderbare Freizügigkeit ist allerdings nur durchzuhalten, wenn die Schweiz, wenn die europäischen Nationen, wenn die Vaterländer verstehen, dass sie strengen Schutz brauchen vor unseligen Utopien. Vor der „Hypervielfalt“. 

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