Merkel-Besuch in Polen - Ein Drahtseilakt

Kolumne: Leicht gesagt. Angela Merkel saß zwischen allen Stühlen. Einerseits wollte die Kanzlerin in Polen dazu ermahnen, demokratische Standards einzuhalten. Andererseits ist ein gutes deutsch-polnisches Verhältnis für die Zukunft Europas wichtiger als je zuvor

Seite an Seite: Angela Merkel und die polnische Regierungschefin Beata Szydlo / picture alliance
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Wulf Schmiese leitet das „heute journal“ im ZDF. Zuvor hat er als Hauptstadtkorrespondent, jahrelang auch für die FAZ, über Parteien, Präsidenten, Kanzler und Minister berichtet.

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Leicht gesagt von der Opposition, doch es war schweres Gepäck für die Polen-Reise der Kanzlerin: Sie solle Demokratieverstöße anprangern in Warschau – um die EU als Ganzes zu schützen! Denn wenn dort der Rechtsstaat und die Pressefreiheit weiter eingeschränkt würden, könne das „den Zusammenhalt in der EU“ insgesamt schwächen. Das hatte ihr der Linken-Abgeordnete Thomas Nord mit auf den Weg gegeben, Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe.

Er hat ja Recht damit. Polen kapselt sich ab, verhält sich in vielem gänzlich anders als es der europäischen Wertegemeinschaft entspricht. Man mag solche Kritik Einmischung nennen, doch die wahre Einmischung lief anders herum: Polen strebte in die EU und damit nach deren Werten. Diese teilen zu wollen, war Voraussetzung für die Aufnahme 2004.

Merkels Dilemma

Das hätte Merkel ihren Gastgebern auch einfach so sagen können. Etliche Ermahnungen dieser Art gab es: aus Brüssel, Paris und auch Berlin – allerdings nie so von ihr, der Kanzlerin. Sie weiß, dass deutsche Kritik entweder gar nichts oder das genaue Gegenteil bewirkt: nämlich als Beweis dafür gilt, dass fremde Allianzen mit Deutschland an der Spitze wieder einmal Polen lenken wollten.

Weiter schweigen aber konnte Merkel nicht, schon aus innenpolitischen Gründen. Aber auch deshalb nicht, weil sie Polens Verhalten im Grunde ebenso sieht wie der Linken-Abgeordnete Nord. Ihr Dilemma: Sie wollte die polnische Regierung zur Ordnung rufen, deren nationales Selbstbewusstsein jedoch nicht verletzen. So verpackte Merkel ihre Kritik in Bewunderung. Sie machte die Polen zu Wegbereitern der deutschen Einheit und der europäischen Einigung. Sie kürte sie zu Trendsettern eben jener Werte, die nun in Polen in Frage zu stehen scheinen.

Lob für Kaczynski

„Solidarnosc hat auch mein Leben geprägt. Und ohne die Solidarnosc wäre vielleicht weder die europäische Einigung und das Ende des Kalten Krieges so schnell gekommen noch die deutsche Einheit“, lobte Merkel die polnische Gewerkschaft, die der Anfang vom Ende des Ostblocks war. „Aus dieser Zeit wissen wir, wie wichtig plurale Gesellschaften sind, wie wichtig eine unabhängige Justiz und Medien sind, denn das hat alles damals gefehlt.“

Das war eine gezielte Charme-Offensive gegen den wahren Lenker Polens, Jaroslaw Kaczynski. Er, der heute die rechtskonservative Regierungspartei PiS führt, war Solidarnosc-Aktivist der ersten Stunde. 1980 schon höchster Gewerkschaftssekretär, der nur deshalb dem Gefängnis entging, weil sein Zwillingsbruder bereits inhaftiert war.

Wahlwerbung für Merkel

Merkels Worte können daher zugleich als Verteidigung des Gescholtenen gelten. Als Beweis dafür, dass ein Solidarnosc-Kämpfer nun wirklich keine Erziehung in Wertefragen nötig hat. Umgekehrt hatte Kaczynski die Kanzlerin zum Tag ihrer Reise ungewöhnlich herzlich gelobt. Ihre Wiederwahl sei „das Beste“, was Polen passieren könne. Hingegen sei SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ein unbeherrschter Schreihals, antipolnisch obendrein und besonders gefährlich wegen seines Hangs zu Russland. Mehr Wahlwerbung geht nicht.

Wer nun denkt, dass Unterstützung von solcher Seite nicht unbedingt förderlich sei, der irrt. Denn gerade einen Unnahbaren wie Kaczynski zu erweichen, kann Merkels wahre Macht in der EU zeigen. Das hat sie dringend nötig, hatte sie doch zuletzt massiv an Einfluss in Osteuropa verloren. Sie braucht ein gutes deutsch-polnisches Verhältnis. Denn das ist nach dem Brexit-Votum für die Zukunft der EU wichtiger als je zuvor.

Wichtigstes Partnerland

Deshalb hat die Kanzlerin in Warschau auch die gemeinsamen Projekte aufgezählt, von der wirtschaftlichen Kooperation, der Energieunion über den gemeinsamen Grenzschutz bis hin zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ausgerechnet Polen, das Merkels Flüchtlingspolitik scharf verurteilt hatte, könnte nun aus Angst vor Russland und den USA künftig zum engsten Partnerland in der EU werden.

Das schwere Reisegepäck ist Merkel jedenfalls durchaus elegant und erfolgreich losgeworden in Warschau.

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