Sexuelle Übergriffe in Mailand - „Wir wollten weglaufen, aber da waren zu viele Männer“

Ähnlich wie 2015/16 in Köln wurden auf dem Mailänder Domplatz in der Silvesternacht zahlreiche Frauen Opfer sexueller Übergriffe. Die mutmaßlichen Täter: junge Männer aus Nordafrika. Und ähnlich wie damals kommen die Einzelheiten erst allmählich ans Licht.

Der Domplatz im norditalienischen Mailand wurde an Silvester zum Schauplatz von Übergriffen / dpa
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Julius Müller-Meiningen arbeitet seit 2008 als freier Journalist in Rom. Er berichtet auf seiner Homepage 
www.italienreporter.de

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Sie sind jung, aggressiv und kommen aus der Peripherie. Oft steigen die jungen Männer in den Zug, um am Wochenende abends in Mailand abzuhängen. Sie reisen aus Bergamo, Como, ja sogar aus dem 150 Kilometer entfernten Turin an. Sie treffen sich in der Innenstadt, kleine Grüppchen von Heranwachsenden, die dann zu einem festen Pulk zusammenwachsen und in der Stadt spontan ihr Unwesen treiben. Randale, Diebstahl und, wie man seit Silvester weiß, wohl auch vielfache sexuelle Nötigung. Ihre Treffpunkte: der Domplatz oder die Piazza Mercanti mit der berühmten Loggia aus dem 14. Jahrhundert.  

Abdallah B. kam am Silvesterabend mit dem Zug aus Turin. Der 21-Jährige Marokkaner wird verdächtigt, einer der Protagonisten der Übergriffe am Silvesterabend gewesen zu sein, wobei immer deutlicher wird, dass die Taten wohl keiner festen Logik oder Koordination folgten. Seit Dienstag sitzt B. in der Strafanstalt Ivrea im Piemont in Haft. Auch ein zweiter junger Mann, Abdelrahman I., 18 Jahre alt, aus Mailand, Sohn ägyptischer Eltern, wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft verhaftet. Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras, Aussagen der Zeuginnen sowie unvorsichtigerweise gepostete Fotos vom Silvesterabend überführten die beiden.  

Mindestens zehn Opfer

Seither melden sich immer mehr betroffene junge Frauen. Bis vor einigen Tagen waren es neun Opfer, die von den sexuellen Nötigungen in jener Nacht berichteten, inzwischen sind es mindestens zehn. Auch zwei deutsche Studentinnen, beide 20 Jahre alt, schilderten, wie sie in jener Nacht am Domplatz bedrängt und begrapscht wurden. „Wir wollten weglaufen, aber da waren zu viele Männer, wir konnten nicht“, sagte eine von beiden. Die Männer hätten ihnen in den Schritt, an die Brüste und an den Po gefasst. „Die haben versucht, mit den Fingern in uns einzudringen.“ 

Die beiden erstatteten bei der Polizei in Mannheim Anzeige. Alle Frauen schilderten dieselben Szenen. Wie ein Schwarm junger, arabisch und italienisch sprechender Männer sie plötzlich umzingelt habe. 30, 40, vielleicht 50 Personen. Wie sie von Einzelnen bedrängt, teilweise bestohlen und schließlich an intimen Körperstellen roh angefasst wurden. Wie sie verzweifelt um Hilfe schrien, ohne gehört zu werden. Wie sie Todesangst erlitten. Ein Ermittler schilderte das Vorgehen so: „Sie haben die Frauen wie Puppen behandelt. Einer hielt das Opfer fest, ein anderer missbrauchte sie, dann wechselten sie die Rollen.“ 

18 Verdächtige bisher ausfindig gemacht

Immer mehr Betroffene wenden sich in diesen Tagen an die Polizei. Was bislang bekannt ist, ist offenbar erst der Anfang dessen, was sich am Silvesterabend um den Mailänder Domplatz herum zutrug. Die Ermittler sprechen von zahlreichen weiteren Zeugenaussagen und Anzeigen „aus ganz Italien“. Mailand erlebt gerade sein Köln. In der Silvesternacht 2015/2016 waren dort Hunderte Frauen sexuell belästigt, genötigt und bestohlen worden. Über 1200 Anzeigen gab es damals, 36 Täter, viele von ihnen sehr jung und mit Migrationshintergrund, wurden verurteilt. Auch damals wurde der Umfang der Übergriffe erst nach und nach deutlich. 

Insgesamt 18 Verdächtige hat die Mailänder Polizei bisher ausfindig gemacht, drei von ihnen minderjährig, die mutmaßlichen Täter sind zwischen 15 und 21 Jahre alt. Drei Episoden sind bislang bekannt. Zuerst der Überfall auf die beiden Frauen aus Deutschland. Eine zweite Episode trug sich offenbar vor der bekannten Einkaufsgalerie Vittorio Emanuele am Domplatz zu. Eine junge Frau wurde dort bedrängt. Die Männer klauten ihr Handy und nötigten das Mädchen. Drei Frauen, die zu Hilfe eilten, sollen dann ebenfalls Opfer der Gruppe geworden sein.  

Schreie und Hilferufe

Besonders drastisch wirkt auch eine dritte Episode. Eine 19-jährige Italienerin soll zusammen mit zwei Freundinnen von einer Gruppe umzingelt worden sein. Auf dem Video einer Zeugin ist zu sehen, wie das Mädchen mit roter Jacke in der Horde förmlich verschwindet. Die Zeugin Chiara C. schilderte ihre Erlebnisse so: „Ich sah, dass eines der Mädchen weder ihr Hemd noch den BH anhatte, ich hörte ihre Hilferufe. Sie lag auf dem Boden, hatte nur noch ihre Jacke an, ihre Hosen waren bis zu den Knöcheln heruntergezogen, sie hatte Angst und schrie.“ Nach wenigen Sekunden sei die Polizei angerückt, die Gruppe habe sich aufgelöst. 

Viele der mutmaßlichen Täter sollen aus Nordafrika stammen, eine Tatsache, die in Italien eine Debatte ausgelöst hat über den Umgang mit jungen, perspektivlosen Männern aus Immigrantenfamilien. „Generation Z“ werden diese von den italienischen Staatsanwältinnen genannt, die mit dem Fall betraut sind. Sie benutzen diesen Sammelbegriff, um zusammenzubinden, was kaum zusammenzuhalten ist. Es handelt sich „um einen Schmelztiegel von Geschichten, sozialer und ethnischer Identitäten, ökonomischer und territorialer Unterschiede, um Italiener, Marokkaner, Ägypter, Italiener gewordene Ausländer und neue Italiener, die sich immer noch fremd in ihrem neuen Land fühlen“, schrieb der Corriere della Sera.  

Aufenthaltsverbot in Mailand

Innenministerin Luciana Lamorgese erteilte beiden Festgenommenen ein Aufenthaltsverbot in Mailand und verurteilte die Taten bei einer Fragestunde im Senat als „sehr schlimm und inakzeptabel“. Die Ministerin versicherte, die Polizei werde „mit größter Anstrengung weiterhin die Sicherheit in unseren Städten garantieren“, um ähnliche Geschehnisse zu verhindern. Die parteilose Lamorgese, früher Polizeipräfektin von Mailand, forderte aber auch, „tiefgreifende soziale Aktionen zur Erziehung und Prävention“ sowie eine „effektive Integration“. Die rechte Lega hingegen bezeichnet entsprechende Versuche als gescheitert. Die regionale Familienreferentin Alessandra Locatelli forderte „exemplarische Strafen“. 

„Wir haben es mit einer Parallelwelt zu tun, jung, zornig und gewalttätig, die wir bislang ignorieren“, schrieb La Repubblica. Viele junge Männer hätten „ein kaputtes Verhältnis zum Sex“. Zu bedenken sei auch, dass in den Herkunftskulturen der mutmaßlichen Täter sexuelle Freiheit nur in der Ehe vorgesehen sei. „Sie kommen aus schwierigen städtischen Umgebungen“, sagt der Mailänder Soziologe Marco Terraneo. „Es sind Kinder von Italienern, Kinder von Ausländern, oft mit abgebrochenen Schulkarrieren. Sie haben keinen Zugang zu den Privilegien unserer Gesellschaft.“ 

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