Libyen - „Haftar kann nicht der neue Gaddafi werden"

In Libyen rückt derzeit General Chalifa Haftar mit der „Libysch Nationalen Armee“ gegen Tripolis vor. Der Machtkampf um das Land droht, wieder zum offenen Bürgerkrieg heranzuwachsen. Ein langer, blutiger Konflikt ist laut Libyen-Expertin Inga Trauthig nicht unwahrscheinlich

Nur noch Tripolis fehlt General Haftar, um sich als Libyens Führer zu etablieren / picture alliance
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Autoreninfo

Christine Zinner studierte Sozialwissenschaften und Literaturwissenschaft und ist freie Journalistin.

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Inga Kristina Trauthig promoviert derzeit am Londoner King’s College über die Wege politischer Einflussnahme im Post-Gaddafi-Libyen und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR).

Frau Trauthig, wie stehen General Haftars Chancen, Tripolis tatsächlich zu erobern?
Es kann bereits jetzt, fünf Tage nach Beginn der Offensive, resümiert werden, dass Haftar die schnelle Mobilisierung und teilweise Fraternisierung zwischen Milizen aus Tripolis und Misrata zu einer Gegenoffensive unterschätzt hat. In Teilen des westlichen Teils Libyens, wie Misrata, hat eine Mobilisierung von Reservekämpfern stattgefunden, die der LNA die Stirn bieten wollen – auf der einen Seite ist damit eine Verteidigung der errungenen Einflussspären verknüpft, gleichzeitig sind viele Libyer trotz der Unruhen der letzten Jahre seit dem Sturz Gaddafis unter keinen Umständen bereit wieder unter einen autokratischen Herrschaft zu leben – und scheinen bereit dafür alles zu geben.

Also gibt es in Libyen keine Sehnsüchte mehr nach einem starken Führer, die Haftar erfüllen könnte?
Zuallererst würde ich an dieser Stelle warnen, ein Verlangen nach einem „starken Führer“ in Libyen zu propagieren. Dieses Narrativ hat die Region für Jahre vergiftet, da internationale Kräfte autokratische Machthaber für Jahrzehnte unterstützt haben und sich dabei auf vermeintliche Legitimation berufen haben, dass die lokale Bevölkerung nach einem „starken Führer“ verlangt, der Stabilität bringt. In 2019 kann Haftar nicht der „neue Gaddafi“ werden, da das heutige Libyen sich immens von dem Libyen von 1969 unterscheidet. Die Protestierenden von 2011 haben für den Sturz eines autokratischen Regimes teilweise ihr Leben gelassen und konnten in den nachfolgenden Jahren die gewonnen Freiheiten fühlen.

Dennoch erfuhr er in Teilen Libyens Unterstützung. Er scheint also nicht rundheraus abgelehnt zu werden.
Haftar selbst hat dem Land in den letzten Jahren viel Unheil gebracht. Allerdings: Auf der einen Seite mussten viele Libyer die Brutalität der Truppen Haftars entweder selbst erfahren oder es wurden glaubhafte Berichte dazu an sie herangetragen. Deshalb sehen sie mit Furcht auf eine mögliche Zukunft in Libyen unter Haftar’s Ägide. Jedoch äußern einige Libyer, manche gerade auch aus der Hauptstadt in Tripoli, die die vergangenen Jahre von Milizen regiert wurde, die Hoffnung, dass Haftar vielleicht zumindest das Potenzial besitzen würde, das Land zu vereinen und die Milizenherrschaft zu beenden. Diese Äußerungen sind mit Vorsicht zu genießen und die Reaktionen sind stark abhängig von lokalem Hintergrund der Personen und den Ambitionen lokaler Akteure. Trotzdem muss die internationale Gemeinschaft auch akzeptieren, dass die vergangenen Jahre in Libyen nach den jüngsten großen Friedensverhandlungen mit dem resultierenden Skhirat-Abkommen für viele Libyer nicht mit Verbesserungen einhergingen und manche somit für fast alle Optionen offen scheinen. Die Strukturen des Gaddafi-Regimes können allerdings nicht einfach wieder von Haftar belebt werden. Gaddafi hat auf seine eigene Weise Allianzen geschaffen und das Land kontrolliert. Es bleibt zu sehen, wie geschickt Haftar ist.

Kommt seine Offensive gegen Tripolis Ihrer Einschätzung nach überraschend?
Das kam leider wenig überraschend, wenn man den Chorus an Warnungen der vergangenen Monate (teilweise schon Jahre, vor allem seit Beginn des libyschen Bürgerkriegs in 2014) Revue passieren lässt, der von internationalen Journalisten, Analysten sowie Libyern selbst kam, die basierend auf Interviews mit Haftar oder Meldungen seines Sprechers al-Mismari alle vermeintlich diplomatischen Bekundungen Haftars für eine friedliche, kompromissorientierte Lösung für das gespaltene Libyen als unglaubwürdig abtaten. Stattdessen hatte Haftar zu mehreren Gelegenheiten seine Absichten verlauten lassen, dass er Libyen vereinen möchte unter seiner politischen Ägide und gestützt durch den Flickenteppich an Milizen unter dem Mantel der LNA. Der Zeitpunkt lässt allerdings doch etwas die Augen reiben. Die Offensive auf Tripolis wurde am 4. April gestartet, wenige Tage bevor die langerwartetete Libysche Nationalkonferenz, die für den 14. bis 16. April stattfinden sollte.

Inga Kristina Trauthig / Foto: privat

Was für eine Absicht verfolgt er damit, so kurz vor der Libyschen Nationalkonferenz den Angriff gegen Tripolis zu befehlen?
Einerseits kann Haftar diesen Vorstoß gewagt haben, weil er Fakten schaffen wollte bevor die Nationalkonferenz Mitte April staffinden werden sollte. Zusätzlich ist wahrscheinlich, dass er seine eigenen Kräfte sowie die regionale und internationale Unterstützung überschätzt hatte. Andererseits ist möglich, dass Haftar sich all seiner Schwächen und Schwierigkeiten bewusst war, aber trotzdem entschied, dass es nun Zeit für einen Vorstoß auf Libyens Haupstadt sei – im Einklang mit einem „Alles oder Nichts“-Denken, das wir von anderen militärischen Führern aus der Region kennen, die wenig Gedanken an zivile Schäden ihrer Operation aufwenden.

Welche Rolle kann beziehungsweise sollte die EU wegen der momentanen Situation in Libyen einnehmen?
Die Hoffnung, dass Haftar das Scheitern seiner Blitzoffensive eingesteht ist noch nicht vom Tisch und kann von überlegten, strategischen, gemeinsamen Handlungen der internationalen Gemeinschaft möglicherweise erreicht werden. Gemeinsamer Druck von US-Seite zusammen mit der EU hat in der Vergangenheit Haftar seine Grenzen spüren lassen, zum Beispiel konnte er sowohl in 2014 als auch 2018 daran gehindert werden, Öl über andere Kanäle als die der akzeptierten Wege zu verkaufen. Nun ist es an der Zeit, dass die genannten Staaten zusammen daran arbeiten, Haftar einen Waffenstillstand abzuringen sowie die geplante libysche Nationalkonferenz von militärisch geschaffenen Tatsachen zu befreien und somit wieder Legitimität zu zusprechen. Dies scheint aktuell die einzige Möglichkeit, weitere Gewalt im Land zu vermeiden und zu verhindern, dass Libyens politischen und diplomatischen Bemühungen umsonst waren. Diese sollten das Land auf den Weg zu einer vereinten politischen Lösung bringen – und sind die letztlich die einzige nachhaltige Option für eine bessere Zukunft Libyens. Haftar und seine visionierte Militärherrschaft wäre eine Rückfall in alte Muster, die weder für das Land selbst noch für die Nachbarschaft Libyens – in Nordafrika, Subsahara-Afrika und Europa – von Vorteil wären.

Frankreich nimmt in seinem Verhältnis zu Libyen eine besondere Rolle ein. Was ist an dem Vorwurf dran, Frankreich hätte Haftar unterstützt?
Frankreich kann vor allem vorgeworfen werden, Haftars internationale Legitimität unterstützt zu haben, die er vor allem durch Einladungen zu diplomatischen Veranstaltungen erlangen konnte – zum Beispiel zur Internationalen Libyenkonferenz in Paris im Mai 2018, obwohl er offiziell keine gewählte, öffentliche Rolle in Libyen für sich reklamieren kann.

Wie geht Frankreich nun mit der Situation um?
Der UN-Sicherheitsrat hat unter deutschem Vorsitz am Freitag Libyen auf die Agenda gebracht, allerdings wurde auch das hiervon resultierende Statement kritisch aufgenommen, da es der Unverfrorenheit Haftars nicht gerecht wird. Hier zeigt sich nochmals die Unterstützung, die Haftar weiterhin vor allem von Russland und Frankreich erhält. Die gleiche Linie zeigt sich in Statement der G7 Länder zu Libyen.

Wird sich das Chaos in Lybien Ihrer Prognose nach vergrößern oder wird sich die Lage wieder stabilisieren?
In der aktuellen Lage scheint das Szenario eines langen, blutigen Konfliktes nicht unwahrscheinlich. Diese Analyse ist vor allem darauf gestützt, dass Haftar dieses Risiko eines dritten Bürgerkrieges eingeht – die LNA ist letztlich nicht die starke Armee, die Haftar gerne porträtiert, sondern vielmehr ein Flickenteppich an Milizen, die einwilligten unter dem Namen der LNA zu kämpfen. Allerdings braucht diese Loyalität einen regelmäßigen Zufluss an Ressourcen und es ist unklar inwiefern Haftar diesen aufrechterhalten kann, wenn man das starke militärische Gegengewicht im Westen Libyens in Betrachtung zieht.

Also ist die militärische Macht, auf die er sicht stützt, schwankend.
Trotzdem, im letzten Jahr hat Haftar – für ihn erfolgreich – geschafft den Großteil des Osten des Landes, inklusive der umkämpften Städte Derna und Benghazi unter die Kontrolle seiner LNA zu bringen, und in 2019 konnte er Erfolg bei seinem militärischem Vormarsch im Süden Libyens verzeichnen. Nun ist der westliche Teil Libyens mit ökonomischen Schwergewichten wie Misrata und der Hauptstadt Tripolis, wo die international anerkannte Einheitsregierung Libyens sitzt, das letzte Puzzlestück, das Haftar braucht, um sich als Führer von ganz Libyen zu etablieren. Allerdings, und hier liegt die Krux, der westliche Teil Libyens ist ungleich dem östlichen und südlichen Teil, und die Militäroffensive im Süden des Landes ist qualitativ Lichtjahre entfernt, von dem was Haftar in Tripolis erwartet.

 

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