Krise in Venezuela - „Das einzige, was boomt, ist das Verbrechen“

Venezuela steht am Rande eines Bürgerkriegs. Präsident Nicolas Maduro lässt sich davon nicht beirren und baut seine Herrschaft weiter aus. Eine friedliche Lösung wird immer unwahrscheinlicher, auch weil eine andere Macht in der Region ihre Hände im Spiel hat

Venezuelas Hauptstadt Caracas ist mit mehr als 60 Morden am Tag die gefährlichste Stadt der Welt / picture alliance
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Autoreninfo

Andrzej Rybak, geboren 1958 in Warschau, ist Journalist und lebt in Hamburg. Er arbeitete mehrere Jahre als Redakteur und Reporter für Die Woche, den Spiegel und die Financial Times Deutschland, berichtete als Korrespondent aus Moskau und Warschau. Heute schreibt er als Autor vor allem über Lateinamerika und Afrika u.a. für Die Zeit, Focus und Capital.

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Jesus Martinez sitzt vor seinem Haus am Strand und blickt aufs Meer. „Früher kamen die Leute jedes Wochenende zu uns nach Coro“, sagt der 50-Jährige melancholisch. „Sie mieteten mein Boot an, um fischen zu fahren oder einen Ausflug zu machen.“ Seit einigen Jahren sei aber gar nichts mehr los. „Die Leute haben kein Geld fürs Vergnügen“, klagt der Fischer. „In Venezuela kämpft heute jeder ums Überleben.“

Nach 18 Jahren Sozialismus ist das Land mit den größten Ölreserven der Welt komplett ruiniert. Die Menschen hungern, es gibt nicht genug Lebensmittel und kaum Medikamente, die Strom- und Wasserversorgung funktioniert nur noch stundenweise. „Das Land entwickelt sich zurück in die Steinzeit“, sagt Martinez. Seit drei Monaten steht Venezuela am Rande eines Bürgerkriegs. Bei täglichen Straßenprotesten gegen die Regierung von Präsident Nicolas Maduro töteten Sicherheitskräfte insgesamt 120 Demonstranten.  

Flucht als einziger Ausweg

Für Martinez hat sich aber eine neue Verdienstquelle eröffnet: Menschenschmuggel. Im Schutz der Nacht fährt er verzweifelte Landsleute auf die holländische Insel Curacao, die nur 70 Kilometer von der venezolanischen Küste entfernt ist. Dort hoffen die Venezolaner einen Job zu finden, um ihre Familie daheim zu ernähren.

Der Überfahrt ist gefährlich, manchmal ist das Meer ziemlich rau. Martinez muss die Leute vorbei an den Grenzpatrouillen in die Küstennähe bringen, wo sie die letzten Meter ans Land schwimmen müssen. „Der Job ist eine Goldgrube“, sagt der Fischer und senkt den Blick als würde er sich schämen. „Die Leute zahlen 500 Dollar pro Person.“

In den vergangenen 18 Monaten sind etwa 300.000 Venezolaner ins Ausland geflüchtet, vor allem nach Kolumbien, Brasilien und auf die holländischen Antillen. „Das einzige, was in Venezuela noch boomt, ist das Verbrechen“, schimpft Martinez. Letztes Jahr wurden landesweit mehr als 22.000 Menschen ermordet, das sind mehr als 60 Morde am Tag. Vergiss Afghanistan: Caracas ist seit drei Jahren die gefährlichste Stadt der Welt. 

Verfassung soll umgeschrieben werden

Die Opposition, die Ende 2015 mit großer Mehrheit die Parlamentswahlen gewann, fordert seit Monaten Neuwahlen. Doch der ehemalige Busfahrer Maduro, der sein Amt dem Krebstod seines Ziehvaters Hugo Chavez verdankt, zeigt sich taub: Er erkennt das von Volk gewählte Parlament nicht an und regiert das Land mit Notstandsdekreten.

Nun greift der großgewachsene Mann mit einem schwarzen Schnautzer nach diktatorischen Vollmachten. Trotz internationaler Proteste ließ er am 30. Juli eine verfassungsgebende Versammlung wählen, die demnächst die Verfassung nach seinen Vorgaben umschreiben soll. Die Wahl war eine Farce: Als Kandidaten durften nur treue Chavista antreten, Arbeiter, Fischer und Bauern, die genauso viel vom Verfassungsrecht verstehen, wie die berühmte Köchin, die lernen sollte, Lenins Sowjetunion zu regieren.

Massive Wahlmanipulationen

Venezuelas Generalstaatsanwältin Luisa Ortega, die früher Maduro unterstützte, erklärte die Wahl im Vorfeld für verfassungswidrig. Daraufhin wurde ihr der Reisepass entzogen, nun soll sie schnellstmöglich des Amtes enthoben werden, heißt es aus dem Präsidentenlager. Aber sie gibt nicht auf, startete eine offizielle Ermittlung gegen „massive Wahlmanipulationen“. Denn die Regierung behauptet, dass etwa 8,1 Millionen Venezolaner an der Wahl teilgenommen haben, das wären mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten. Unabhängige Beobachter sprechen dagegen von maximal drei bis vier Millionen Wählern. Der britische Hersteller der Wahlmaschinen in Venezuela, Smartmatic, ließ nur kurz verlauten, dass die Zahlen zur Wahlbeteiligung „ohne jeden Zweifel manipuliert“ worden seien. 

Maduro kann sich aber nicht einmal auf die drei Millionen Wähler verlassen. Viele von ihnen gingen nur unter Zwang an die Urnen, das Regime drohte den Staatsangestellten offen mit Kündigung, sollten sie der Abstimmung fernbleiben. 

Hilfe aus Kuba

Seit der Niederlage der Sozialisten bei den Parlamentswahlen 2015 verhöhnt Maduro sein eigenes Volk und die internationale Gemeinschaft. Die kleine Gruppe der Chavista-Anhänger hat das ganze Land in Geiselhaft genommen. In der Nacht nach der Wahl ließ er die beliebten Oppositionspolitiker Leopoldo Lopez und Antonio Ledezma erneut verhaften, die er selbst drei Wochen vorher noch aus dem Gefängnis in den Hausarrest entlassen hatte. 

Die Aussichten für die Opposition sind düster, denn Maduro hat mächtige Unterstützer. Alle Institutionen des Staates sind von Kubanern infiltriert, sei es die Armee oder die Geheimdienste. Seit fast 60 Jahren zeigt das Regime in Havanna, wie man sich ohne den Rückhalt in der Bevölkerung an der Macht halten kann. Auch US-Wirtschaftssanktionen verfehlten auf Kuba das Ziel. 

Den Kubanern ist das venezolanische Volk egal. Sie helfen Maduro, um das Überleben Kubas zu sichern. Denn eine neue Regierung in Venezuela würde sofort die subventionierten Öllieferungen nach Kuba einstellen, die das Land etwa vier Milliarden Dollar im Jahr kosten. Ein Lieferstopp würde Kuba in eine tiefe Krise stürzen.

Wenig Hoffnung

Mit jedem weiteren Tag, an dem sich Maduro an die Macht klammert, ist eine friedliche Lösung der Krise unwahrscheinlicher. Denn die Clique um den Präsidenten plündert jeden Tag die Staatsfinanzen und begeht weiter Verbrechen gegen das eigene Volk. 

Auf kurze Sicht hat die Opposition keine reale Chance. Maduro wird sich so lange halten, solange das Militär auf seiner Seite steht. Die Menschen können ihr Leben riskieren und auf der Straße kämpfen. Oder sie können fliehen und versuchen, im Ausland ein neues Leben anzufangen. Jesus Martinez in Coro kann dabei helfen.

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