Karin Kneissl, Außenministerin von Österreich - „Wir brauchen Realpolitik statt Moralpolitik“

Österreichs Außenministerin Karin Kneissl über Migration, die Naivität des Westens, den Siegeszug populistischer Parteien – und über die Krise der EU

Erschienen in Ausgabe
„Europa wirkt angesichts der demografischen Herausforderung in Afrika etwas naiv“, sagt Karin Kneissl / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Frau Kneissl, Sie sind seit gut einem Jahr österreichische Außenministerin. In dieser Zeit waren Sie unter anderem befasst mit einer krisenhaften EU, den Brexit-Verhandlungen, der Migrationskrise, einem Konflikt mit Russland, einer unberechenbaren US-Regierung sowie der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft. Ist das alles nicht ein bisschen viel für eine politische Seiteneinsteigerin wie Sie?
Ich bin in der privilegierten Situation, dass ich im Außenministerium praktisch groß geworden bin und dort das Metier neun Jahre lang kennengelernt habe. Ich bin also nicht an diese Aufgaben gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Und viele meiner heutigen Kollegen kenne ich noch aus früheren Zeiten. Gerade in schwierigen Situationen hilft das menschlich sehr, wenn man nach einem 14-stündigen Arbeitstag noch den Humor des anderen kennt. Zudem habe ich mich in den 20 Jahren meiner Selbstständigkeit intensiv mit außenpolitischen Fragen beschäftigt. Die meisten Länder, die ich jetzt als Außenministerin bereise, kenne ich bereits – was äußerst hilfreich ist.

Welches der eingangs genannten Themenfelder beschäftigt Sie am meisten?
Ich würde generell sagen: Es ist die Krise des Multilateralismus. Das beginnt übrigens schon innerhalb der EU: Alle meine Kollegen haben die Telefonnummer von Federica Mogherini, der EU-Vertreterin für Außenpolitik. Aber wir rufen sie nicht an.

Warum nicht?
Gute Frage. Ich selbst rufe Federica Mogherini ja durchaus an. Aber generell würde ich sagen, dass wir eine Krise der Methoden haben: Jeder kocht sein eigenes Süppchen, es wird nur noch unilateral gepostet und getweetet. Das direkte Gespräch miteinander ist ins Abseits geraten. Wir brauchen eine neue Herangehensweise, um wirklich wieder miteinander in die Debatte zu kommen.

Im Mai stehen die Wahlen zum EU-Parlament an, und allenthalben wird gewarnt vor einem Siegeszug der populistischen Parteien. Nun wird die FPÖ, die Sie als Außenministerin nominiert hat, selbst oft als populistisch bezeichnet. Wie kommen Sie damit klar?
Ich persönlich bin in keine Wahlkampfaktivität involviert. Allerdings nehme ich eine Krise der etablierten Parteien wahr; ich selbst habe übrigens vor 20 Jahren das Außenministerium verlassen gerade wegen des politischen Drucks, der dort herrschte. Die Vertrauenskrise der etablierten Parteien führt zu neuen Bürgerbewegungen, wie wir es heute etwa in Frankreich erleben. Die Ränder werden stärker. Ich habe schon in meinem 2013 erschienenen Buch „Die zersplitterte Welt“ vorausgesagt, dass wir uns zunehmend mit den „Wut-Parteien“ werden auseinandersetzen müssen. Der so genannte Populismus korreliert schlicht und ergreifend mit einer entsprechenden Nachfrage, das ist wie in der Marktwirtschaft. Und wenn bestimmte Parteien zumindest den Eindruck vermitteln, dass sie näher an den Problemen der Menschen dran sind als die politische Konkurrenz, dann werden sie eben gewählt. Was die EU-Parlamentswahlen angeht, halte ich die Wahlbeteiligung für ganz entscheidend. In unserem Nachbarland, der Slowakei, lag die Wahlbeteiligung bei der letzten Europawahl bei gerade einmal knapp über 13 Prozent. In Österreich lag sie immerhin bei 45 Prozent, was aber immer noch deutlich weniger ist als bei Nationalratswahlen. Die Frage ist also: Wie können wir dieses Desinteresse an Europa überwinden?

Wie denn?
Das Problem ist: Die Bürger haben das Gefühl, dass jeder in Europa heutzutage bereit ist, es noch ein Stück billiger zu machen als die anderen. Wir haben innerhalb der Europäischen Union einen Graben zwischen Nord und Süd, was die Finanzierung der Länderhaushalte angeht. Und einen Graben zwischen Ost und West, der sich aus der Migrationsdebatte ergeben hat.

Was Letzteres angeht, erkennt man etwa in Ungarn. Viktor Orbán kritisiert inzwischen fast täglich die EU-Institutionen, insbesondere die Kommission. Er fordert tief greifende Reformen im Gefüge der Europäischen Union. Sehen Sie ebenfalls Reformbedarf?
Absolut. Schon der Maastricht-Vertrag von 1992 war in gewisser Weise ein Einfrieren bestimmter Ist-Zustände, die man hätte weiterentwickeln müssen. Der damalige französische Staatspräsident François Mitterrand hat seinerzeit stark darauf gedrängt, dass die EU viel stärker geopolitisch denken müsse und nicht so krämerseelenhaft. Stattdessen wurde in den folgenden Jahren viel Energie verwendet auf Regulierungen und Detailtüfteleien; noch dazu entstanden etliche Doppelstrukturen. Und als ich Ende der neunziger Jahre als Zeitungskorrespondentin in den späteren osteuropäischen Beitrittsstaaten unterwegs war, habe ich sehr deutlich gespürt, dass es diesen Ländern vor allem darum ging, in die westlichen Sicherheitsstrukturen eingebunden zu werden. Eine EU-Mitgliedschaft hat man dort aus wirtschaftlichen Gründen zwar gern mitgenommen, aber der Nato-Beitritt war den meisten doch deutlich wichtiger. Und die Europäische Union hat ihr eigenes Sicherheitsversprechen bis heute leider nicht einlösen können.

Was also sollte die EU besser machen?
Ich will jetzt gar keine konkreten Reformen für die EU-Institutionen vorschlagen. Mir fällt allerdings auf, dass die Art und Weise, wie die Vertreter der einzelnen Länder bei EU-Ratssitzungen miteinander umgehen, falsch ist. Die Kollegen gehen da rein und lesen sich dort vorgefertigte Statements vor. Das ist weit entfernt von jeglicher politischen Debatte; da hat jede Studentenkonferenz mehr Substanz. Selbst Blickkontakt ist zwischen den Ratsteilnehmern kaum noch vorhanden, weil alle nur noch auf ihr Handy schauen. Da ist keine Fokussierung aufeinander mehr da. Das mag banal klingen, aber ich halte es für wichtig, daran etwas zu ändern. Sonst redet man nur noch aneinander vorbei.

Ein wichtiger Faktor bei den EU-Wahlen dürfte die Migrationsfrage sein. Welchen Weg sollte die Europäische Union da einschlagen?
Ich glaube, man kann nicht bestreiten, dass mit den Ereignissen von 2015 eine Sogwirkung entstanden ist. Damals haben sich Menschen auf den Weg gemacht, die das sonst nie getan hätten. Da wurden falsche Signale gegeben, und unsere österreichische Vorgängerregierung hat damals schon bald gegengesteuert. Diesen Kurs setzen wir bis heute verstärkt fort. Selbstverständlich aber müssen wir Europäer auch in den Herkunftsstaaten der Migranten etwas bewirken. Wir sollten weg von diesem entwicklungspolitischen Mitleids-Business hin zu echten Investitionen. Da ist Europa spät dran, auch wegen der vielen Compliance-Regeln, die europäische Unternehmen auf dem afrikanischen Kontinent laut EU-Maßgaben erfüllen müssen.

Ist es angesichts der demografischen Entwicklung in Afrika nicht ein frommer Wunsch, Europa könne die Fluchtursachen vor Ort bekämpfen?
Der Fehler fängt schon damit an, dass Afrika oft als einheitlicher Raum betrachtet wird. Dabei sind die Regionen natürlich sehr, sehr unterschiedlich. Und es existiert eine riesige zivilisatorische und historische Kluft zwischen dem arabisch-semitisch-islamischen Nordafrika und dem Subsahara-Afrika mit Problemen, die aus den jeweiligen Stammeskulturen oder auch aus dem Kolonialismus entstammen. Aber ich gebe Ihnen recht: Europa wirkt angesichts der afrikanischen Herausforderung manchmal etwas naiv. Tatsächlich findet heute auf dem afrikanischen Kontinent ein regelrechter dritter Weltkrieg um Rohstoffe statt. Schauen Sie doch nur nach Kongo, wo dieser Krieg längst Millionen Tote gefordert hat, die keiner je gezählt hat. Da geht es um viele Probleme, die wir Europäer mit gesteuert haben. Übrigens habe ich großen Respekt vor jedem Unternehmer, der sich in Afrika engagiert. Ich selbst allerdings habe vor vielen Jahren mal in Angola unterrichtet und Folgendes beobachtet: Der französische Mitarbeiter eines großen Energiekonzerns ist ständig zwischen seinem Einsatzgebiet und seinem Heimatland hin- und hergependelt. Während hingegen ein chinesischer Erdölingenieur sechs Tage in der Woche gearbeitet und sich am siebten Tag um sein eigenes Geschäft – ein Hotel, ein Café, was auch immer – in Angola gekümmert hat. Das macht dann schon einen Unterschied.

Ein ständiges Thema in der EU ist auch der Schutz der europäischen Außengrenzen.
Österreich hatte während seiner Ratspräsidentschaft den großen Ehrgeiz, Frontex bis zum Jahr 2020 auf 10 000 Leute aufzustocken. Das wurde jetzt im Ministerrat wieder verschoben auf 2025. Der Ehrgeiz, mit dem wir dieses Thema im vergangenen Juli angegangen sind, hat sich leider auf europäischer Ebene nicht durchgesetzt. Klar ist aber, dass dringend etwas passieren muss. Denn es kann keinen gemeinsamen Schengen-Raum geben, wenn der Schutz der Außengrenzen nicht funktioniert.

Die deutsche CDU hat sich unlängst zum Thema Migration neu positioniert und hält selbst die Schließung nationaler Grenzen als letztes Mittel für möglich. Sehen Sie das als Bestätigung der österreichischen Linie – Stichwort „Schließung der Balkanroute“?
Es sollte jetzt nicht darum gehen, wer recht und wer unrecht behalten hat. Wichtig ist, dass wir in dieser Frage alle gemeinsam Realpolitik betreiben anstatt Moralpolitik. Es ist übrigens auch im Interesse der Herkunftsländer, dass sie nicht ihre klügsten Köpfe durch Migration verlieren. Nicht nur deswegen habe ich mich seit September 2015 zum Flüchtlingsthema konsequent sehr kritisch geäußert, weil ich damals als Arabisch-Übersetzerin in Flüchtlingsunterkünften ständig Kontakt mit Migranten hatte. Die meisten Leute, die ich da traf, waren nämlich keine Syrer. Sondern Marokkaner, die mit einem One-Way-Ticket nach Istanbul geflogen und dann mithilfe von Schleppern weiter gen Europa gezogen waren.

Sie waren schon früh eine Kritikerin des so genannten Flüchtlingsdeals mit der Türkei. Wie stehen Sie heute dazu?
Ich verstehe, dass damals der Handlungsdruck sehr hoch war und deswegen dringend ein Abkommen mit der Türkei geschlossen werden musste. Aber im Detail wurde der Türkei ein sehr großer Spielraum gelassen, was die Identifizierung und die Rücknahme der Migranten betrifft.

Sie sind fast weltberühmt geworden durch Ihren Tanz mit Wladimir Putin, als der im vergangenen Sommer bei Ihrer Hochzeit zu Gast war. Welchen Weg sollte die EU beschreiten, was das künftige Verhältnis zu Russland betrifft?
Den Weg des Realismus. Das sieht übrigens die deutsche Bundeskanzlerin genauso. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gern Bismarck, der gesagt hat: „Geografie ist die Konstante der Geschichte.“ Europa endet doch nicht hinter der Grenze zu Russland, sondern geht irgendwo dahinter in den eurasischen Raum über. Russland muss in vielen Fragen ein Partner der EU sein, und da wäre es ein Fehler, nicht mehr miteinander zu reden. Viele altgediente Diplomaten erinnern sich daran, dass die Kommunikation sogar während des Kalten Krieges besser war als heute. Ich habe auch zu meinem amerikanischen Amtskollegen Mike Pompeo gesagt: Wir sollten unsere Zeit nicht damit verschwenden, Russland zum Feindbild zu machen – denn die wahre Herausforderung ist China.

Was bedeutet dies alles für das hochumstrittene Pipeline-Projekt Nord Stream 2?
Das Thema ist noch nicht gegessen. Washington wird seinen Druck aufrechterhalten, dieses Projekt zu beerdigen. Ganz grundsätzlich ist meine Haltung: Unternehmen bauen keine Pipeline, um jemanden zu ärgern, sondern weil eine Nachfrage besteht.

Dies ist ein Artikel aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

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