Jahrestag des Bataclan-Massakers - Die nationale Einheit ist verpufft

Vor fünf Jahren erschossen islamistische Attentäter in Paris 129 Menschen, hunderte wurden verletzt. Frankreich antwortete damals mit demonstrativer nationaler Einheit. Davon ist nach den jüngsten Attentaten nichts mehr zu spüren.

Eine Gedenkveranstaltung zum ersten Jahrestag der Terroranschläge in Paris / dpa
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Julien Mechaussie arbeitet als Korrespondent in Berlin, u.a. für RFI, So Press, France Télévisions und die Deutsche Welle.

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129 Tote. 354 Verletze. Es war vor fünf Jahren, am 13. November 2015. In Frankreich spricht man nur vom 13. November, und jeder weiß, was gemeint ist, so wie beim 11. September 2001. Der Einschnitt ist ähnlich tief.

Fünf Jahre später: „Die Anschläge – es ist eure Schuld“. „Wer den Hass sät, erntet was der Hass am Ende ergibt: den Tod. Die Wörter, die Karikaturen wie die Messer, sind Waffen, die töten können“. Es sind E-Mails, die ein paar Tage alt sind. Sätze, die nach der Enthauptung von Samuel Paty und dem Anschlag in der Kirche Notre-Dame von Nizza an die Redaktion von Charlie Hebdo geschickt wurden.

Aber es sind keine Sätze, die von Islamisten geschrieben wurden. Ganz normale französische Bürger haben sie verfasst. Sie wollen Charlie Hebdo eine Teilschuld an der Gewalt geben.

Mein Vater ist bereit, zu den Waffen zu greifen

Die nach dem 13. November 2015 erlebte und so notwendige nationale Einheit scheint heute nicht mehr als eine verblasste, ferne Erinnerung zu sein. Sie ist verpufft. Niemand in Frankreich hat sich nach den Attentaten auf das Stade de France, das Bataclan und die Pariser Café-Terrassen getraut zu sagen: „Er, sie oder eine Zeitung ist schuld“. Niemand. Die einzigen Schuldigen waren und sind die Terroristen und ihre morbide Ideologie.

Ein paar Minuten nach der Meldung der Ermordung von Samuel Paty hat mir auch mein Vater geschrieben: Er sei bereit, zu den Waffen zu greifen. Um meine Schwester, sein Enkelkind und mich zu beschützen. Mein Vater ist kein Extremist. Zu Hause hörten wir die Freigeister Léo Ferré und Jacques Brel. Jede Woche wurde Charlie Hebdo gekauft. Er hat aber das Gefühl, in einem Land im Kriegszustand zu leben. So wie viele Franzosen. Weil die Anschläge nie aufhören.

Medien vermitteln Gefühl von permanentem Kriegszustand

Weil auf der Straße, an Flughäfen und an Bahnhöfen Soldaten mit Gewehren patrouillieren. Weil Nachrichtensender nach dem Modell von Fox News das Gefühl des Kriegszustands rund um die Uhr vermitteln. Wie ein Gift. Ein paar Tage nach Nizza wurde ein Priester in Lyon angeschossen. „Schon wieder, es hört nie auf“, haben alle gedacht, als die Nachrichtensender das Thema aufgriffen. Es scheint fast schon zur Routine zu gehören.

Mein Vater ist Atheist und laizistisch. Aber für ihn stand fest: Nizza, Lyon – mit dem Angriff auf die christliche Religion greift man unsere Identität an. Dabei war dieser Priester in Lyon kein Symbol eines Krieges der Zivilisationen. Er hatte eine Affäre mit der Frau des Mannes, der die Schüsse auf den Priester abgab. Kein Krieg also, sondern enttäuschte Liebe. Die Nachrichtensender hatten aber keine Zeit, um ihre Zuschauer über die wahren Beweggründe zu informieren: Es gab zu wenig Sendeplatz wegen der Wahl in den USA, des fünfzigsten Todestags von General de Gaulle und Covid-19.

Ist das vivre-ensemble gescheitert?

Aber das Gefühl bleibt und ersetzt immer mehr ein anderes Gefühl: das des vivre-ensemble – des Zusammenlebens. Ich bin in Fontenay-sous-Bois aufgewachsen, einer typischen Pariser Vorstadt, die direkt an das Pariser Stadtgebiet angrenzt. Es ist ein Ort, der zum sogenannten "roten Gürtel" gehört: Eine Vielzahl von Städten der Pariser Peripherie wurde über Jahrzehnte von kommunistischen Bürgermeistern regiert. Es ist keine Nostalgie: Das vivre-ensemble wurde dort jeden Tag gelebt.

Obwohl Fontenay-sous-Bois wie viele Banlieues zur Hälfte aus Einfamilienhäusern und zur anderen Hälfte aus Hochhausiedlungen besteht, gibt es dort nur ein Gymnasium – das Pablo-Picasso-Gymnasium, mittendrin in den Hochhaussiedlungen. Wir haben dort alle zusammen gelernt, gekifft, Hip-Hop gehört. Arme, Bourgeois, Atheisten, Juden, Muslime, Christen, Weiße, Schwarze, mit oder ohne Migrationshintergrund. Das war uns einfach egal und hat nie eine Rolle gespielt. Aber das alles gibt es nicht mehr.

In Frankreich muss man heute zu allem klar Stellung beziehen. Bin ich Charlie oder nicht. Wenn jemand sagt: „Die Muslime sind nicht schuld an dieser Gewalt“, steht er an der Seite der Islamisten. Wenn jemand sagt „Der Islam hat ein Problem“, ist er islamfeindlich. Unlösbare Debatten, die trotzdem Tag und Nacht von den Nachrichtensendern angefeuert werden.

Neuköllner Kommunitarismus

Als ich 2007 nach Berlin gezogen bin, wollte ich dieses Gefühl des vivre-ensemble auch jeden Tag erleben. Ich habe eine Wohnung in Neukölln gefunden und war glücklich, nicht nur wegen der damals billigen Mieten für einen, der aus Paris kommt. Es sollte weltoffen sein. War es aber nicht. Die Leute lebten nicht zusammen, sondern nebeneinander: Kommunitarismus nennt man das, das Gegenteil des französischen Modells. Beziehungsweise des französischen Mythos, der offenbar dramatisch gescheitert ist.

Zu einem runden Geburtstag sind meine Freunde vor einigen Jahren aus der Banlieue nach Berlin geflogen. Drei Tage endlich wieder alle zusammen. Alle möglichen Farben, Herkunft, Religionen und sozialen Schichten waren dabei. Ungefähr 20 Leute. Als wir in einen linksalternativen Club reinwollten, fragten die Türsteher: „Hey, was seid ihr denn für eine Truppe? Ihr macht doch keinen Ärger, oder?“ Weil sie diese Art des vivre-ensemble noch nie gesehen hatte. 

Fünf Jahre nach dem 13. November frage ich mich, wie lange ich meinem deutsch-französischen Sohn dieses Zusammenleben in Paris und seinen Banlieues noch zeigen kann. Ein sehr guter Freund aus Paris, der jetzt in Köln lebt, hat mir nach Nizza geschrieben: „Es macht mich wütend, weil ich dieses Land verdammt liebe“. Kein Krieg also, sondern enttäuschte Liebe.

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