Israel und Palästina - Die jüdische Nakba

Zum Jahrestag der israelischen Staatsgründung eröffnen die USA ihre Botschaft in Jerusalem. Gleichzeitig gibt es bei Protesten der Palästinenser viele Tote. Vor 70 Jahren wurden Hunderttausende von ihnen vertrieben. Das widerfuhr auch Juden in Arabien. Nur haben die ihre Opferrolle abgelegt. Von Sarah Stricker

Proteste in Ramallah gegen Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem / picture alliance
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Autoreninfo

Die Schriftstellerin Sarah Stricker lebt seit acht Jahren in Tel Aviv. Ihr Debütroman „Fünf Kopeken“ (Eichborn) wurde unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, dem höchst dotierten Preis für ein deutschsprachiges Erstlingswerk, und wird derzeit in mehrere Sprachen übersetzt.

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Heute ist Nakba-Tag, jener Tag, an dem auch in Deutschland auf zahlreichen Kundgebungen und Protestmärschen an die Katastrophe (arabisch: Nakba) erinnert wird, die die Gründung des Staates Israel vor genau 70 Jahren für die arabische Welt bedeutete. 700.000 Palästinenser verloren während des ersten arabisch-israelischen Kriegs ihr Zuhause, darunter viele, die seit Generationen auf dem zuvor von Briten, Osmanen, Griechen und Römern beherrschten Gebiet gelebt hatten. Für viele ihrer Nachkommen ist dieser Verlust bis heute ein Trauma, so sehr, dass auch gestern wieder, zusätzlich angeheizt durch die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem, 50.000 an den blutigen Ausschreitungen an der Grenze des Gazastreifens teilnahmen, bei denen mindestens 59 Menschen ums Leben kamen.

Die bereits vor sechs Wochen unter der Losung „Marsch der Rückkehr“ begonnen Proteste, in deren Zug die Demonstranten zuletzt nicht nur Granaten auf israelisches Territorium warfen, sondern vergangene Woche auch zum wiederholten Male ihre eigene Infrastruktur in Brand setzten, unter anderem die einzige Leitung, die mehrere Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen mit Benzin, Diesel und Kochgas versorgt, verfolgen ein klares Ziel: Die Rückkehr in die Gebiete, die die Palästinenser während des unmittelbar auf die Staatsgründung Israels folgenden Kriegs verloren. 

Ein jüdischer Staat war den Arabern unerträglich

Fairerweise muss man anmerken, dass wir hier von einem Krieg sprechen, den die arabische Seite selbst begonnen hatte, denn tatsächlich hätte die Staatsgründung keine Katastrophe sein müssen. Was Israel mit der Ausrufung seiner Unabhängigkeit am 14. Mai 1948 tat, war nichts als die Umsetzung des UN-Teilungsplans, der sowohl einen jüdischen, als auch einen arabischen Staat vorsah. Den Arabern hätte es freigestanden, dasselbe zu tun. Stattdessen fanden die Tonangebenden unter ihnen die Vorstellung eines jüdischen Staats inmitten von mehr als einem Dutzend arabischer Staaten so unerträglich, dass Ägypten, Syrien, Jordanien, Libanon und der Irak das gerade mal wenige Stunden alte Israel noch in der Nacht zum 15. Mai angriffen. Fairerweise muss man auch erwähnen, dass die Palästinenser teilweise von ihren eigenen Anführern dazu aufgerufen wurden, das Land zu verlassen, in der Annahme, sie könnten nach ein paar Wochen zurückkehren, wenn der Krieg, ohne Behinderung durch eigene Leute in der Schusslinie, rasch gewonnen wäre. Fairerweise muss ich jedoch erst recht hinzufügen, dass ich gerade erst vor ein paar Wochen bei einem Freund zum Essen eingeladen war, bei dem der noch ziemlich rüstige Großvater ohne allzu große Betroffenheit davon erzählte, wie er 48 zwei Palästinenser aus deren Haus gezerrt und ihnen erklärt habe, das sei von nun an seins. 

Fraglos gab es Vertreibungen. Fraglos haben die Palästinenser großes Leid erfahren. Fraglos leiden sie noch immer – was unglücklicherweise auch einiges damit zu tun hat, dass so viele weiterhin zu glauben scheinen, der einzige Weg, dieses Leid zu beenden, sei es, das ganze Land für sich zu bekommen. Es hat damit zu tun, dass junge Palästinenser bereit sind, Monate unter Tage zu verbringen und Terrortunnel zu graben, während die Häuser über ihnen in sich zusammenfallen. Es hat damit zu tun, dass die im Gazastreifen herrschende Hamas lieber Millionen für Raketen ausgibt als das für die Bevölkerung bestimmte Geld in den Wiederaufbau zu stecken. Es hat damit zu tun, dass unter jenen, die auch zur Stunde weiter versuchen, die Grenze zu durchbrechen, vor allem 17-, 18-, 19-Jährige sind, die das, was sie „Heimat“ nennen, nie selbst gesehen haben. Es hat damit zu tun, dass „Rückkehr“ in ihren Sprechchören nie Co-Existenz meint, sondern immer von einem „Tod den Juden“ gefolgt ist. Und es hat damit zu, dass die 17-Jährigen nicht mal die Jüngsten sind, dass viele Familien nicht davor zurückschrecken, ihre Kinder mitzubringen und inmitten der Gefechte an den Grenzzaun zu schicken – so viele, dass selbst Palästinenserpräsident Mahmud Abbas einen flammenden Appell an sie richtete, sie mögen damit aufhören, er wolle nicht, dass die nächste Generation von Palästinensern eine Generation Verstümmelter werde. 

Kaum Mitgefühl für die jüdischen Flüchtlinge

Die Menschen in Koblenz, Köln, Berlin und Bonn, die in diesen Tagen in Solidarität mit den Protestlern im Gazastreifen auf die Straße gehen, scheinen damit weniger Probleme zu haben, erst echt nicht, nachdem die von Bill Clinton, George Bush und Barak Obama trotz einer Entscheidung des Kongresses von 1995 immer wieder  aufgeschobene Verlegung der US-Botschaft nun eben letztlich von Donald Trump in die Tat umgesetzt wurde, was in den Augen so mancher Deutscher offenbar auch die schlimmsten Gewaltexzesse legitimiert. Aber auch ohne derartige Schritte werden die Demonstrationen zum Nakba-Tag jedes Jahr größer, nimmt die Zahl jener immer weiter zu, die ein Rückkehrrecht für die Palästinenser fordern..

Für wen sich das Mitgefühl hingegen in ziemlich engen Grenzen hält, ist die zweite Gruppe, die mit der Gründung Israels zu Flüchtlingen wurde – die arabisch- und persischstämmigen Juden. Vielmehr scheint den meisten eins kaum bewusst zu sein: Während jene 700.000 Palästinenser ihre Heimat verloren, musste eine mindestens ebenso große Zahl von Juden in die andere Richtung fliehen. 

Noch am Ende des Zweiten Weltkriegs lebten in den arabischen Ländern und dem Iran rund eine Million Juden, die meisten in relativem Frieden mit ihren muslimischen und christlichen Nachbarn, wie etwa in Ägypten, wo die jüdische Geschichte bis in die Zeit der Pharaonen zurückreicht. Das änderte sich jedoch schlagartig mit der Unabhängigkeitserklärung Israels.

Die Geschichte der Vertreibung der Juden

Mit einem Mal wurden Juden als israelische Spitzel verdächtigt, ihre Häuser durchsucht, wer sich wehrte in Internierungslager gesteckt. Zwischen Juni und November 1948 explodierten mehrere Bomben im jüdischen Viertel Kairos, 70 Juden starben, 200 wurden verwundet. 1956 nutzte die ägyptische Regierung die Suez-Krise als Vorwand, um fast 25.000 ägyptische Juden auszuweisen und ihr Eigentum zu konfiszieren. Am 23. November 1956 verabschiedete der Minister für religiöse Angelegenheiten ein Gesetz, das in Moscheen in ganz Ägypten verlesen wurde und Juden zu Staatsfeinden erklärte. Die Lebensbedingungen verschlechterten sich zunehmend, Juden wurden schikaniert, drangsaliert und zur Ausreise gedrängt – bis der Regierung das Drängen irgendwann nicht mehr reichte. Am ersten Tag des Sechstagekrieges 1967 nahmen ägyptische Sicherheitskräfte alle jüdischen Männer zwischen 16 und 80 fest und stellten sie und ihre Familien vor die Wahl, entweder augenblicklich das Land zu verlassen oder auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis zu wandern. Meist durften die Ausreisenden nur einen einzigen Koffer mitnehmen und mussten eine Erklärung unterschreiben, in der sie ihr gesamtes Eigentum der ägyptischen Regierung „spendeten“. 80.000 Juden lebten vor der Gründung Israels in Ägypten; heute sind es noch genau fünf jüdische Frauen, die Muslime geheiratet haben.

Im Irak erklärte die Regierung 1948 Zionismus zum Kapitalverbrechen. Juden wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, ihre Konten eingefroren und jüdische Geschäfte boykottiert. Allein bis 1951 kamen 123.00 Juden aus dem Irak nach Israel. Nach dem Sechs-Tage-Krieg wurden Juden aus öffentlichen Ämtern entlassen, ihre Handelserlaubnis annulliert, sie durften keine Telefone benutzen, wurden auf unbestimmte Zeit unter Hausarrest gestellt und pausenlos überwacht. Ende 1968 kam es zu Schauprozessen gegen angebliche israelische Kollaborateure, die schließlich zu neun Todesurteilen führten. Nachdem das Radio seine Zuhörer aufgerufen hatte, „zu kommen und das Fest zu genießen“, fand sich eine Million Schaulustiger auf dem Freiheitsplatz in Bagdad ein, um der öffentlichen Hinrichtung beizuwohnen. Die meisten der verbliebenden irakischen Juden flohen daraufhin.

Im Libanon wurden jüdische Einrichtungen beschlagnahmt, ihre Besitzer enteignet und stattdessen palästinensische Flüchtlinge darin einquartiert. 1950 explodierte eine Bombe in der jüdischen Schule „Alliance Israélite Universelle“ in Beirut; die Direktorin und der Hausmeister starben sofort. 

In Syrien formierte sich bereits unmittelbar nach der Bekanntmachung des UN-Teilungsplans ein Mob und zerstörte die 2500 Jahre alte jüdische Gemeinde in Aleppo. 75 Juden wurden massakriert, zehn Synagogen, fünf Schulen, ein Waisenhaus, ein Jugendklub und 150 jüdische Häuser niedergebrannt. 

Auch in Aden, im heutigen Jemen, führte schon die Ankündigung der Teilung Palästinas zu einem ersten Pogrom, bei dem 82 Juden ermordet wurden. Weiter angestachelt durch das Gerücht, Juden hätten zwei muslimische Mädchen ermordet, folgten mehrere Massaker, woraufhin Israel unter dem Decknamen „Fliegender Teppich“ eine beispiellose Rettungsaktion durchführte, in der 49.000 Juden ausgeflogen wurden. 

Irgendwann die Situation akzeptiert

Insgesamt 850.000 Juden kamen in den Jahren nach der Staatsgründung aus den arabischen Ländern und dem Iran nach Israel, in den meisten Fällen ohne die Möglichkeit, ihren Besitz mitzunehmen. Auch sie haben ihre Heimat verloren. Auch ihnen wurde ein Teil ihrer Identität geraubt. Auch sie können nicht mehr zurück. Nein, ich möchte niemanden auffordern, auch für ihr Rückkehrrecht auf die Straße zu gehen – das würde wohl auch kaum einer der Betroffenen in Anspruch nehmen, zum einen, weil es in der Mehrzahl der genannten Länder für Juden weiterhin alles andere als sicher ist; zum anderen, weil die meisten von ihnen, anders als viele Palästinenser, die sich auch in der dritten Generation als Flüchtlinge bezeichnen, die geflohenen Juden sich heute eben als Israelis betrachten, und erst recht tun das ihre Kinder und Enkel, weil sie, auch wenn viele ganz unten anfangen mussten, sich irgendwann mit der neuen Situation abgefunden und begonnen haben, ihre Energie in den Ort zu stecken, in dem sie von nun an leben.

Nein, es geht nicht um Rückkehr.

Aber sollte es nicht auch um ihre Rechte gehen?

Warum demonstriert niemand dafür, dass sie für ihren Verlust entschädigt werden? 

Warum redet niemand über besetzte Häuser in Ägypten? 

Warum gibt es keine Petition, in der die irakische Regierung aufgefordert wird, Kompensationszahlungen zu leisten? 

Warum setzt sich keiner dafür ein, das jüdische Erbe in der arabischen Welt zu bewahren? 

Warum kommt niemand auf die Idee, an einen Tag im Jahr auch ihrer zu gedenken – selbst wenn sie dafür nicht mit gewalttätigen Protesten kämpfen?

 

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Cicero arbeitet mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Civey erstellt repräsentative Umfragen im Netz und basiert auf einer neu entwickelte statistischen Methode. Wie das genau funktioniert, kann man hier nachlesen. Sie können abstimmen, ohne sich vorher anzumelden.
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