Islamistischer Terror in Wien - „Der IS ist wieder da! Fühlt euch nicht sicher!“

Der Terroranschlag in Wien hat Österreichs Hauptstadt völlig unvermittelt getroffen. Dabei seien weder der Ort noch das Timing ein Zufall gewesen, sagt der Terrorexperte Nicolas Stockhammer. Doch warum schlägt der IS erst drei Jahre nach dem Zusammenbruch des Kalifats zu?

„Als Terrorist hat man in Wien die Chance, auf wenig Widerstand zu stoßen“ / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Nicolas Stockhammer ist Österreichs bekanntester Terror-Experte. Er berät das Bundesministerium für Landesverteidigung und forscht am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien zu Fragen der Sicherheitspolitik und zur Hermeneutik des Krieges. 

Herr Stockhammer, in Wien haben ein oder mehrere Täter bei einem Terroranschlag im Umfeld einer Synagoge vier Menschen getötet und weitere schwer verletzt. Sie leben und arbeiten in der Stadt. Wie geht es Ihnen?

Ich bin Österreichs bekannter Terrorexperte. Wann immer auf der Welt ein Terroranschlag stattfindet, klingelt das Telefon. Jetzt ist meine eigene Stadt zur Zielscheibe geworden, und ich muss doppelt so viele Interviews geben. Das fällt schwer, wenn der Terroranschlag gewissermaßen vor der eigenen Haustür stattgefunden hat. Ich bin geschockt. 

Nach Angaben von Österreichs Innenminister Karl Nehammer soll es sich bei dem Täter um einen Sympathisanten der Terrormiliz Islamischer Staat handeln. Welche Anhaltspunkte gibt es dafür? 

Die Polizei hat auf dem Instagram-Account des Haupttäters Hass-Postings gefunden, die darauf hingewiesen haben. Es ist ein Mann mit nordmazedonischen Wurzeln. 

Was weiß man noch über ihn?

Die Quellenlage ist noch recht dürftig. Er ist in Österreich geboren und aufgewachsen und hat zwei Nationalitäten. Er hat schon einmal wegen einer terroristischen Straftat im Gefängnis gesessen. 2019 kam er wieder frei. Der Mann gehört zu dieser neuen Art von Attentätern, die ich McDschihadisten nenne. Die koppeln sich ab, widmen ihre Arbeit aber einer Terror-Organisation. Ich nenne das „das lose Franchise-Netzwerk des Terrors“.

 

 

 

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Nicolas Stockhammer / privat 

Der IS ist 2017 zerfallen, viele Kämpfer sind zurück in Ihre Heimat gereist. Ist es vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass so ein Attentat im Namen des IS erst jetzt passiert?

Nein, Sie müssen unterscheiden: Es gibt die IS-Terrormiliz, die mit der Erosion des Kalifats faktisch besiegt wurde. Und es gibt den IS mit operativen Armen in ganz Europa als Terror-Organisation. Und der hat immer weitergelebt. Er braucht auch nicht viel, um weiterzuexistieren.

In welchem Zusammenhang steht der Anschlag zu den Anschlägen in Paris, Nizza und in Dresden, wo ein Syrer ein schwules Pärchen mit dem Messer attackiert hat? 

Diese Anschläge wurden alle von diesem IS mit operativen Armen in ganz Europa durchgeführt. Sie stehen alle im Zusammenhang mit der Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in der französischen Satire-Zeitschrift Charlie-Hebdo. Es gibt die Aufrufe von einem Pariser Muslimbruder-Imam, der gesagt hat, man müsse das rächen. 

Sie meinen den Imam, der einen 18-jährigen Tschetschenen angestachelt hat, den Lehrer Samuel Paty zu enthaupten?

Richtig. Dieser Aufruf hat natürlich Wellen geschlagen in Dschihadistenkreisen. Und es gab schon in der Phase des ersten Lockdowns in Propaganda-Publikationen des IS – zum Beispiel in der Zeitung Al-Naba – einen Aufruf, man solle die Pandemie nutzen und die Schwächen der westlichen Staaten auszunutzen und Anschläge verüben. 

Das heißt, das Timing ist kein Zufall?

Nein, aus meiner Sicht ist es kein Zufall. Es deutet sogar vieles darauf hin, dass der Anschlag auf den letzten Abend vor den Lockdown vorverlegt wurde, weil um diese Zeit noch viele Menschen in der Stadt unterwegs waren. Trotz einer logistischen und taktischen Planung ist der Anschlag selbst relativ stümperhaft vonstatten gegangen. 

Woraus schließen Sie das?

Aus den Videos, die den Anschlag dokumentieren. Der Haupttäter hat einen Ort frequentiert, er hat Personen angeschossen und ist dann wieder zurückgekommen. Das ist nicht logisch. Man geht bei solchen Anschlägen immer vom Primat der Fortbewegung aus. Bei dem Überfall auf den Pariser Club Bataclan sind die Täter auch nicht zurückgekehrt. Die sind immer weiter nach vorne gelaufen, weil sie wussten, hinten kommen Sondereinsatzkräfte der Spezialeinheit einer Polizei. 

Aus Wien berichten Augenzeugen, es habe eine Weile gedauert, bis die Polizei kam. Ist die Stadt auf einen solchen Anschlag überhaupt nicht vorbereitet gewesen? 

Nein, meine These ist: Wien ist ein vergleichsweise weiches Ziel. Es gibt weniger Polizeipräsenz als anderswo. In der Wiener Altstadt sieht man nicht rund um die Uhr Polizisten mit Schnellfeuergewehren marschieren. Es herrscht bislang ein eher freiheitlicher Lebensstil – nicht so wie in Paris oder in Rom, wo überall schwerbewaffnete Polizisten und Soldaten die Straßen frequentieren. Als Terrorist hatte man eine gewisse Chance, hier auf wenig Widerstand zu treffen. 

Was war genau das Ziel dieses Anschlags?

Es geht darum, Angst und Panik zu schüren und neue Mitarbeiter zu rekrutieren. Der Hauptzweck ist aber, zu zeigen: Der IS lebt wieder! Wir können das überall tun! Fühlt Euch nicht sicher!

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

In einer früheren Fassung stand, der Täter sei vermutlich mit einem Flüchtlingstross nach Europa gekommen. Inzwischen hat die Polizei bestätigt, dass es sich um einen in Österreich geborenen Mann mit zwei Nationalitäten handelt, der schon einmal wegen einer terroristischen Straftat im Gefängnis gesessen hat. 

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