Islamistischer Terror in Frankreich - Radikalisierungstreiber Lockdown?

Höchste Terrorwarnstufe und Lockdown: In Frankreich nimmt derzeit nichts seinen gewöhnlichen Lauf. Viele fürchten in Folge der Ausgangsbeschränkungen eine weitere Radikalisierung: Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer, radikale Prediger könnten mehr Gehör finden.

Gleich zwei islamistische Anschläge in kürzester Zeit: Emmanuel Macron im Krisenmodus / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Frankreich befindet sich im Doppelschock. Als würde der erneute harte Lockdown Menschen und Wirtschaft nicht schon schwer genug treffen, führt der gestrige zweite brutale Terroranschlag innerhalb von nur 14 Tagen das Land erst recht in den Ausnahmezustand. In jeder Hinsicht.

Emmanuel Macron hat sich gestern vor Ort in Nizza klar ausgedrückt: Die Tat, so der Präsident, war ein Terroranschlag, gerichtet gegen Frankreich als Ganzes, gegen seine Werte und seine Art zu leben. Er rief seine Landsleute auf, nicht vor dem Terror zurückzuweichen. Man dürfe dem Geist der Spaltung nicht nachgeben. 

Täter war noch nicht lange in Frankreich

Am Mittwoch war ein 21-jähriger tunesischer Flüchtling um neun Uhr morgens mit einem Messer bewaffnet in die Basilika Notre-Dame de l'Assomption im Zentrum von Nizza eingedrungen, hatte dem Küster und einer 60-jährigen Frau mit großer Gewalt die Kehle durchgeschnitten und mindestens 7 weitere Personen schwer verletzt. Eine 44-jährige Frau konnte noch in eine Bar flüchten, starb dort aber an den Messerstichen. 

Der Täter wurde bei seiner Verhaftung ebenfalls lebensgefährlich verletzt. Der Pariser Anti-Terror-Staatsanwalt Jean-Francois Ricard hat zudem erklärt, der Täter sei am 20. September auf der italienischen Insel Lampedusa als Flüchtling angelandet, von dort Anfang Oktober nach Bari weitergereist und erst am Donnerstag überhaupt in Frankreich eingetroffen. Eine Warnung der italienischen oder auch der tunesischen Behörden habe es nicht gegeben.

Frankreich im Ausnahmezustand

Unterdessen ist in Nizza ein 47-jähriger Mann verhaftet worden, der Kontakt zum Täter gehabt haben soll, und auch die tunesischen Behörden ermitteln gegen den Täter und mögliche Komplizen.

In Paris tagt heute Morgen unter Vorsitz des Präsidenten der nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Landesweit gilt die höchste Terrorwarnstufe. Schulen, Kirchen und Friedhöfe stehen unter verstärkter Bewachung. Die Polizei- und Militärpräsenz in den Städten ist deutlich erhöht worden.

Die ohnehin wegen des Lockdowns gedrückte Stimmung im Land wird durch die Terrorangst noch einmal schlechter. Heute Morgen berichtet das französische Fernsehen über große Verkehrsstaus, trotz des Verbots wollen viele ihre Wohnung verlassen. Grund: Wer immer kann, verlässt die Großstädte und fährt zu Eltern oder Verwandten aufs Land. Dort ist nicht nur mehr Platz, der Lockdown also besser zu ertragen. Es fühlt sich vor allem ungefährlicher an.

Der Ton wird rauer

Der Tonfall der öffentlichen Diskussionen wird erkennbar aggressiver. Die Vokabel Islamo-Faschismus ist fast schon in die Umgangssprache eingegangen. Auch liberale Politiker sprechen davon, Frankreich befände sich im „Kriegszustand“. Marine Le Pen und der Rassemblement National fordern Spezialgefängnisse und die Ausweisung aller Terroristen.

Aber während das bei dem Attentäter von Nizza und dem Mörder von Samuel Paty sogar möglich wäre, ist das eigentliche Problem, dass die Mehrzahl der islamistischen Attentäter einen französischen Pass besitzt und also gar nicht ausgewiesen werden kann. Erst recht gilt das für diejenigen, die in obskuren Moscheevereinen die Radikalisierung predigen. Gegen diesen „home-grown“ Terrorismus kann man mit angedrohten Ausweisungen rein gar nichts erreichen. Er ist ein Problem der französischen Gesellschaft.

„Wir haben die Ghettoisierung im eigenen Land zugelassen.“

Wie dieser militante Islamismus im Land weiter und vor allem besser bekämpft werden soll, ist die eigentliche Frage. Macron hat bei seiner Rede zum Separatismus am 2. Oktober gesagt, „Wir haben die Ghettoisierung im eigenen Land zugelassen.“ Der radikale Islam habe „einige unserer Bürger und Bürgerinnen, unserer Kinder“ dazu gebracht, „den schlimmsten Weg zu gehen, ihn gar für den richtigen zu halten.“ Was aber tun?

Am 2. Dezember wird ein Gesetz in die Nationalversammlung eingebracht, das gegen sogenannten Separatismus vorgehen soll. Es wird unter anderem um die Kontrolle der Finanzierung von radikalisierten Gruppen gehen und um die Art und Weise der Ausbildung von Imamen. Der muslimische Dachverband von Frankreich kritisiert vor allem die Wortwahl des Präsidenten. Es gehe nicht um Separatismus, sondern es gehe um den radikalen und politischen Islam. Und diesen bekämpfe der Dachverband seit Jahren. 

Gefahr der Selbstradikalisierung im Lockdown

Schon der erste Lockdown hat in Frankreich wie auch in Deutschland dazu geführt, dass die Schere zwischen Reichen und Armen weiter aufgegangen ist. Der zweite Lockdown, das prognostizieren alle Wirtschaftswissenschaftler, wird das nur noch verstärken. Während sich die einen aufs Land zurückziehen, wird für andere die eigene Perspektivlosigkeit stärker und spürbarer. In den Banlieues der Großstädte wird die Zahl der Menschen, die auf radikale Prediger hören, so eher größer denn kleiner. Die Gefahr der Selbstradikalisierung in der Isolation des Lockdowns ist noch nicht erforscht, aber durchaus erkannt.

Das ist die politische Aufgabe, die der Präsident lösen muss. Und auch wenn das laizistische Frankreich absichtlich keine Statistik über die Religionszugehörigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger führt, ist doch klar, dass sicher zehn Prozent der französischen Staatsbürger Muslime sind. Die vor falschen Predigern zu schützen, kann und sollte sich der Staat als Aufgabe stellen. 

Dazu bedarf es keiner Kriegsrhetorik, sondern Bildung. Macron hat gestern in Nizza erklärt, das Land werde nicht vor Terroristen kapitulieren und im Streit um seine Werte nicht klein beigeben. Er forderte alle Französinnen und Franzosen auf, gleich welcher Religion, ob gläubig oder nicht, zusammenzustehen. 

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