„Hirntod“-Äußerung von Emmanuel Macron - Nato-Erfahrungen

Emmanuel Macron verkündet den „Hirntod der Nato“, Angela Merkel bemüht sich, die Gemeinsamkeiten der Bündnispartner zu betonen. Der Vorstoß des französischen Präsidenten zeigt: Der Druck auf Deutschland, mehr militärische Verantwortung zu übernehmen, steigt

Unterschiede gegen Gemeinsamkeiten: Emmanuel Macron und Angela Merkel / picture alliance
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Weiter können Urteile kaum auseinanderliegen, als die des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Nato. Viele wollen darin einen weiteren Beleg für eine zunehmende Entfremdung der beiden sehen, reden von einer schweren Krise im deutsch-französischen Verhältnis.

Anfang Dezember wird die Nato in London offiziell ihren 70sten Geburtstag feiern. Deshalb hat Macron der englischen Zeitung The Economist im Vorfeld ein großes Interview gegeben und Tacheles geredet. In Syrien hätten zwei Nato-Mitglieder (USA und Türkei) ohne jede Absprache mit den Partnern gehandelt, deren Interessen durch ihr unkontrolliertes und aggressives Vorgehen gefährdet seien. Weil man sich zudem erstmals mit einem amerikanischen Präsidenten konfrontiert sehe, der die Idee eines europäischen Projekts nicht teile, befände sich die Nato am Rande des Abgrunds. Und dann der Satz: „Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der Nato“.

Die Nato war nie Bündnis gleichberechtigter Staaten

Quasi umgehend widersprach Merkel im Beisein von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Das sei definitiv nicht ihre Sicht, denn: „Die transatlantische Partnerschaft ist unabdingbar für uns“. Es gebe unbestreitbar Probleme, aber die könne und müsse man gemeinsam lösen. Die Nato ist „unser Sicherheitsbündnis“, so Merkel.

Der Gegensatz ist nicht zu übersehen – und ja, er ist gewaltig. Nur neu ist er nicht. Im Gegenteil. Die USA haben die Nato nie als Bündnis vollkommen gleichberechtigter Staaten betrachtet, sondern als Mittel zur Durchsetzung eigener strategischer Interessen. Die anderen dürfen gerne mittun, solange das den USA dienlich ist.

Kein französischer Präsident hat sich dieser Sichtweise je angeschlossen. In Deutschland wird schnell vergessen, das Präsident de Gaulle als eine seiner ersten Amtshandlungen nach dem Wahlsieg 1959, die französische Flotte dem Nato-Befehl entzog. 1966 beendete er dann die französische Nato-Mitgliedschaft ganz. Frankreich ist erst seit 10 Jahren wieder Vollmitglied. Daran muss man erinnern.

Überlebenswichtige Sicherheitsgarantie

Für Deutschland – vor allem für die alte Bundesrepublik – war die Nato-Mitgliedschaft dagegen nicht nur die Möglichkeit zur Rückkehr in den Kreis der akzeptierten Staaten, sondern überlebenswichtige Sicherheitsgarantie gegen die imaginierte Gefahr aus dem Osten. Dass der Warschauer Pakt erst nach ihrem Nato-Beitritt gegründet wurde und explizit als Reaktion darauf, hat sich aus dem kollektiven Bewusstsein komplett verabschiedet.

Insofern ist die unterschiedlich Betrachtung des Bündnisses also nicht neu. Sie ist vielmehr fester Bestandteil der unterschiedlichen Selbstbilder der beiden Staaten. Sehr wohl aber ist der Dissens absichtlich aufgeführt, um nicht zu sagen inszeniert. Denn im Ziel, da liegen Macron und Merkel durchaus sehr eng beieinander.

Merkel betont Gemeinsamkeiten

Donald Trump hat bereits im Wahlkampf 2016 die Nato mehrfach als "obsolete" bezeichnet, als veraltet, überholt und überflüssig. Vor allem aber hat er als Präsident die Europäer nicht mehr in Entscheidungsstrukturen eingebunden, hat ihnen nicht einmal mehr das Gefühl gegeben, ein relevanter Faktor zu sein. Vielmehr hat er Europa zum Gegner erklärt, gegen den er auch wirtschaftspolitisch Front macht. Man muss bei diesem Präsidenten gar für möglich halten, das er die Nato-Strukturen zugunsten bilateraler „deals“ aushöhlt.

Dem müssen und wollen die Europäer entgegenwirken. Merkel zieht daraus den Schluss, die Gemeinsamkeiten zu betonen, Macron sagt, wir müssen unabhängiger werden und eigene Stärke kreieren. Das entspricht seiner generellen Politikvorstellung: Europa ist die einzige Möglichkeit für seine einzelnen Mitgliedsländer, international relevant zu bleiben. Das gilt für Macron politisch wie wirtschaftlich, aber eben auch militärisch.

Mehr deutsches Engagement

Politisch und ökonomisch sieht man das in Deutschland exakt genau so. Militärisch nicht zwingend. Und die Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte weiterhin angebracht. Aber genau da greift Macron mit seinem Interview ein, gerne in Kauf nehmend, dass er sich dabei als Europas gewichtigste Stimme zeigen kann. Mit seinem Wort vom Hirntod jagt er „einen Stromstoß“ als Herzschrittmacher durch die Nato, wie es Anne-Marie Descôtes, die französische Botschafterin in Berlin benennt.

Denn er findet, es reicht bei Weitem nicht aus, wenn die deutsche Verteidigungsministerin meint, mit ihrer Syrien-Initiative einen schon lange toten Gaul ins Ziel reiten zu wollen oder wie jetzt in München „verlangt“, Deutschland müsse militärisch mehr Verantwortung übernehmen. In diese Richtung hat Annegret Kramp-Karrenbauer nun an der Bundeswehr-Universität in München auch ihre Idee eines nationalen Sicherheitsrates formuliert. Das hatte auch ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen schon vor drei Jahren auf der Münchener Sicherheitstagung angekündigt, allerdings bis heute weitgehend ohne konkrete Folgen. Ob die heutige Verteidigungsministerin es schafft, das praktisch umzusetzen, ist mindestens unklar.

Macron wartet nicht gerne auf Deutschland

Macron will mehr Unabhängigkeit von den USA. Er will, dass Europa perspektivisch für die eigene Sicherheit sorgen kann. Er weiß ganz genau, so wichtig die force de frappe auch ist, dass er das ohne Deutschland niemals wird erreichen können. Und weil seine Vorstellung der deutsch-französischen Partnerschaft auf strategischen Überlegungen fußt, ist sie so zentral wichtig für ihn, und unabhängig von Unterschieden in der Betrachtung von Einzelfragen.

Aber schließlich wartet er nicht gerne auf ein Deutschland, das sich seit Jahren lieber mit sich selbst beschäftigt als mit den großen Problemen der Welt. Ein bisschen Druck, findet man in Frankreich, kann nie schaden. Den Namen der amtierenden deutschen Verteidigungsministerin, den wird man sich allerdings erst merken – ob als Kürzel AKK oder in der unaussprechlichen Langfassung –, wenn aus innenpolitisch und taktisch motivierten Ankündigungen auch Taten werden. On va voir, man wird sehen.

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