Hamas-Papier - Neue Fassade, altes Haus

Die Palästinenser-Organisation Hamas hat ein Papier veröffentlicht, in dem viele einen wichtigen Schritt zur Befriedung des Nahost-Konflikts sehen. Der Historiker Michael Wolffssohn hat sich den Text genau angeschaut und kommt zu einem anderen Schluss

Neues Papier, neuer Chef Ismail Haniyya: Aber wie glaubwürdig sind die Friedensbemühungen der Hamas? / picture alliance
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Michael Wolffsohn ist Historiker, Hochschullehrer des Jahres 2017 und Autor der Bücher „Wem gehört das Heilige Land?“, „Israel“, „Zum Weltfrieden“ und „Deutschjüdische Glückskinder, Eine Weltgeschichte meiner Familie“. 

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Frieden in Nahost, Frieden für Palästina und Israel? Sogar zwischen der islamistischen Hamas und dem jüdisch-zionistischen Staat? Ist das Ende des bald 140-jährigen Krieges zwischen beiden Seiten in Sicht? Der großsprecherische US-Präsident ist überzeugt, auf diesem Gebiet bald „liefern“ zu können, ohne auch nur ein Stichwort dazu mitgeteilt zu haben. Das bleibt abzuwarten.

Manche, sogar einige westeuropäische Diplomaten, setzen eher auf die am 1. Mai offiziell verkündete neue Charta der bisher nur als Terrororganisation bezeichneten Hamas. Sie sehen so etwas wie Licht am Terror-Tunnel, also das Ende des Hamas-Terrors und meinen, der neuen Charta einen Strategiewechsel entnehmen zu können. Ist hier der Wunsch Vater des Gedankens? Das amtliche Israel sieht in der Charta eine taktische Variante, eine Pinselsanierung des Hamas-Hauses. Neue Fassade, altes Haus. Also Terror und Israels Auslöschung als „Endlösung“. Was stimmt?

Offizielle Programme politischer Akteure sind selbst in Demokratien wahrlich nicht wortwörtlich zu verstehen. Schon gar nicht im operativen Sinne. Doch bezüglich der Substanz, des Grundsätzlichen sind sie durchaus aussagekräftig. Gleiches gilt für die alte und neue Hamas-Charta. Verzichten wir auf den Alt-neu-Vergleich. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche.

Historische Grundlagen stimmen nicht

Die Präambel besagt, Palästina sei das Land des arabisch-palästinensischen Volkes. Hier sei dessen Ursprung.

Tatsächlich ist das falsch. Die Vorfahren der Palästinenser waren, so die bisherige Lesart der Palästinenser-Historiografie, die aus dem Alten Testament bekannten Philister. Daher der Name „Palästina“. Die Philister sind weitgehend identisch mit den sogenannten Seevölkern. Diese kamen um 1200 v. Chr. vom Balkan in den Vorderen Orient. Allerdings war und ist der Balkan kein Teil der Arabischen Welt. Ergo: entweder Philister oder Araber oder im Laufe der Zeit Vermischungen. Das Historische der Hamas-Charta wackelt.

Palästina sei ein vom „rassistischen, unmenschlichen und kolonialistischen zionistischen Projekt“ geraubtes Land. Rassistisch ist vieles, und der Konflikt zwischen Arabern und Zionisten ist brutal. Nur rassistisch war und ist er nicht. Rasse war nie ein Thema. Nation sehr wohl. Aber der Begriff ist wortwörtlich ein Schlagwort: Der Gegner soll zumindest und zuerst verbal geschlagen werden.

Palästina sei „die Seele der Humanität“. Ja, das wäre schön. Man schaue auf und in den Gazastreifen, wo die Hamas seit 2007 herrscht.

Jordanien muss einbezogen werden

Artikel 1 nennt den Bezugspunkt der Hamas: den Islam. Das ist legitim, entspricht jedoch nicht genau demokratischen Prinzipien und schon gar nicht der Trennung von Religion und Politik. Nicht-Muslime sind a priori Bürger zweiter Klasse.

Artikel 2 definiert die Landesgrenzen. Sie reichen vom Jordan zum Mittelmeer auf der Ost-West-Achse und von Rosch Hanikra im Norden bis Umm Al-Rashrash, also Eilat am Roten Meer im Süden des heutigen Israel. Im Klartext: Westjordanland plus Israel plus Gazastreifen.

Das ist historisch sowie demografisch bemerkenswert, denn ursprünglich gehörte auch das Ostjordanland, das jetzige Königreich Jordanien, zu Palästina, zumindest seit 1920 zum Mandatsgebiet, das dann der Völkerbund Großbritannien zur Treuhandschaft überließ. Rund drei Viertel der heutigen Staatsbürger Jordaniens sind Palästinenser.

Das bedeutet: Historisch und demografisch gehört Jordanien zu Palästina. 1970 war die PLO drauf und dran, die Macht in Jordanien militärisch zu ergreifen und in Palästina 1 umzuwandeln. Davon ist heute nicht die Rede. Und morgen? Angesichts der Demografie kommt dieses Thema sicher wieder auf die Tagesordnung. Es bleibt in der Charta aber aus taktischen Gründen unerwähnt.

Daraus folgt wiederum: Wer den Konflikt Israel-Palästina lösen will, muss Jordanien so oder anders mit einbeziehen.

Einmal Flüchtling, immer Flüchtling

Artikel 3 bestimmt, dass Palästina ein arabisch-islamisches Land sei. Unwillkürlich fragt man sich, was dort das Los von Nicht-Arabern und Nicht-Muslimen sei.

Artikel 4 ist besonders für „Volksdeutsche“ und deutsche Territorial-Revisionisten ebenso aufschlussreich wie ermutigend: Palästinenser seien Araber, die bis 1947 in Palästina lebten, unabhängig davon, ob sie von dort vertrieben wurden oder blieben. Hinzukommt – unabhängig davon, ob innerhalb oder außerhalb Palästinas nach 1947 geboren – jede Person mit einem arabisch-palästinensischen Vater. Auf Deutsche bezogen würde das bedeuten, dass die zwölf Millionen am Ende des Zweiten Weltkrieges Vertriebenen – ausgehend von Hamasvorstellungen – das Rückkehrrecht nach Polen, Tschechien und so weiter hätten. Europas Fundament würde krachen. Und in Nahost?

Artikel 5 bestimmt, dass die palästinensische Identität zeitlich unbegrenzt sei und von Generation zu Generation reiche. Eine zweite Staatsbürgerschaft ändere nichts an der palästinensischen Nationalität. Auf deutsche Flüchtlinge übertragen: Einmal Flüchtling, immer Flüchtling. Sollte Erika Steinbach Ururenkel haben, so gelten diese als Flüchtlinge.

Juden bleiben unerwähnt

Palästina sei das Herz der arabischen und islamischen Gemeinschaft, verkündet Artikel 7. Das ist sowohl theologisch als auch historisch innerislamisch und innerarabisch revolutionär. Bislang galt die arabische Halbinsel mit Mekka und Medina als Herz jener Doppel-Gemeinschaft.

Von einer religiösen oder historischen (Ver-)Bindung der Juden zu diesem Land kein Wort. Freundlicheres verkündet Artikel 7 für Christen: Palästina sei auch der Geburtsort von Jesus Christus. Von Jesus als Christus, also Messias, ist die Rede. Hier wird entweder islamisch-theologische Unkenntnis sichtbar – Jesus gilt im Islam als Prophet und nicht als Messias – oder Taktik, nämlich: Sympathiewerbung im christlichen Teil der Welt. Freilich auf Kosten der Juden, die, wie gesagt, unerwähnt bleiben. 

Dass Palästina immer ein Modell der Koexistenz, Toleranz und zivilisatorischen Erneuerung war, erfahren wir in Artikel 8. Die historische Erfahrung sieht anders aus. Leider. Noch eine Phrase mehr also.

Jerusalem, Hauptstadt Palästinas

In Artikel 9 wird behauptet, „der Islam“ widersetze sich allen Formen religiöser, ethnischer oder sektiererischer Extremismen und Fanatismen. Dagegen ließe sich intensiv widersprechen oder darüber diskutieren. Aus der Hamas-Feder aber erinnert das an George Orwells „1984“: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke. Hier setzt Hamas eindeutig auf die Unwissenheit der Außenwelt und will die Leser für dumm verkaufen.

Artikel 10 ist Jerusalem gewidmet, der „Hauptstadt Palästinas“. Ganz offensichtlich ist ganz Jerusalem gemeint, denn von einem israelischen West-Jerusalem ist nichts zu finden. Die heiligen Stätten des Islam und Christentums „gehören ausschließlich dem palästinensischen Volk und der arabisch-islamischen Gemeinschaft“. Auf keinen Stein Jerusalems kann verzichtet, keiner aufgegeben werden. Das schwächt das Werben um Christen ab. Gibt es in Jerusalem auch heilige Stätten der Juden? Das erfahren Leser der Charta nicht. 

In Artikel 11 wird einmal mehr das Märchen von den „Versuchen der Besatzer“ erzählt, diese wollten die Al-Aqsa-Moschee „judaisieren“. Das Judentum aber ist eine nicht-missionierende Religion.

Der Versuch, über Judenhass hinwegzutäuschen?

Vertriebene „Volksdeutsche“ sowie ihre geschichtsrevisionistischen Nachfahren lesen sicher auch Artikel 12 und 13 noch lieber als Artikel 5. Das Rückkehrrecht der 1948 und 1967 vertriebenen Palästinenser sei, so Artikel 12, unverzichtbar. Folglich widersetzt sich die Hamas in Artikel 13 der dauerhaften Niederlassung von Palästinensern außerhalb Palästinas. Das bedeutet: Heute und morgen sollen die meisten Palästinenser weiter im Elend leben, damit ihre Nachfahren über- oder überübermorgen nach Israel zurückkehren. Was das bedeuten würde, muss man nicht erklären.

Die Artikel 14 bis 17 sind dem „zionistischen Projekt“ gewidmet. Die bekannten Schlagworte werden wiederholt. Bemerkenswert ist Artikel 16: „die Hamas versichert, es trage mit dem zionistischen Projekt einen Konflikt aus, nicht mit den Juden wegen ihrer Religion. Diese Feststellung gleicht einer theologischen Selbstenttarnung der Hamas. Im Klartext: Die Hamas ist islamisch-judentheologisch entweder ahnungslos oder will Unkundige einmal mehr täuschen. Der Koran sowie andere heilige Schriften des Islam sind voller Hass gegenüber Juden und erzählen ebenso freimütig wie offen sogar von Massakern. Der Prophet Mohammed hat diese Tradition begründet, und das berichten uns jene islamischen Schriften. 

Israel wird das Existenzrecht aberkannt

Über Israels Besatzung und „politische Lösungen“ informieren die Artikel 18 bis 23. „Null und nichtig“ sei, so Artikel 18, völkerrechtlich längst Gültiges wie das Völkerbundsmandat nach dem Ersten Weltkrieg, die von der UNO-Vollversammlung am 29. November 1947 beschlossene Teilung Palästinas in einen jüdisch-zionistischen sowie einen palästinensisch-arabischen Staat. Die Gründung „Israels“ (man beachte die Anführungszeichen) sei „total illegal“. Folglich verlangt Artikel 19, dass die Legitimität der „zionistischen Einheit“ nicht anerkannt werde. Israel wird auch im siebzigsten Jahr der Staatsgründung das Existenzrecht aberkannt. 

Artikel 20 halten viele – auch in Deutschland – für ein Zeichen der Hoffnung. Zwar beharrt auch hier Hamas auf der „Befreiung von ganz Palästina“, aber akzeptiert Folgendes als „nationalen Konsens“ der Palästinenser: ein souveränes, unabhängiges Palästina in den Grenzen vom 4. Juni 1967 (also vor Israels Sieg im und der Besetzung seit dem 6-Tage-Krieg) mit Jerusalem als Hauptstadt, der Rückkehr der Flüchtlinge und Heimatlosen in ihre einstigen Heime. 

Unter Jerusalem ist ganz Jerusalem zu verstehen. Ergo: keine Rechte für Juden, denn es gäbe ja keine heiligen Stätten der Juden. Und weiter: keine Israelis, schon gar keine Hauptstadt Israels, denn Jerusalem ist Palästina. Oder ist das doch nicht so klar? Immerhin gehörte das jüdisch-israelische West-Jerusalem schon vor dem 6-Tage-Krieg zu Israel. Dieses Faktum ermöglicht tatsächlich Manövrierraum. Doch was hätte mit den ungefähr 300.000 Juden in Ost-Jerusalem und Umgebung, den „Siedlungen“, zu geschehen? Würde Israel sie zurückziehen müssen, gäbe es einen innerjüdischen Bürgerkrieg. 

Pinselsanierung des Terror-Hauses

Die Artikel 24 bis 42 beschäftigen sich mit Allgemeinheiten, die schön klingen, aber substantiell politisch nichts Neues und nur Gutes über und aus der palästinensisch-arabisch-islamischen Welt beschreiben. Höhepunkt und Abschluss zugleich ist Artikel 42: „Die Hamas verurteilt auch alle Formen des Kolonialismus, der Besatzung, Diskriminierung, Unterdrückung und Aggression in der Welt.“

Fazit: Das Terror-Haus der Hamas wurde lediglich pinselsaniert. Friedfertigkeit sieht anders aus. Wenn die Palästinenser-Führung ihrem Volk wirklich Frieden und Wohlstand verschaffen möchte, gibt es nur einen Weg: durch demonstrative, echte Friedensbereitschaft die Wählerbasis der israelischen Hardliner schwächen und damit einen Kurs-, also Koalitionswechsel zu erreichen. Dabei wäre das allgemein vorgeschlagene Modell der Zwei-Staaten-Lösung auch nicht zielführend. Nur föderative Strukturen, genauer: eine Mischung aus Staatenbund und Bundesstaat Israel-Westjordanlad-Gaza-Jordanien, kann Frieden schaffen ohne Waffen.

Das jüngste Buch von Michael Wolffsohn „Deutschjüdische Glückskinder, Eine Weltgeschichte meiner Familie ist kürzlich im dtv-Verlag erschienen. 440 Seiten, 26,80 Euro

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