Großbritannien vor Neuwahlen - Operation „Reiner Tisch“

Die Ausrufung der Neuwahlen in Großbritannien ist ein Überraschungscoup von Premierministerin Theresa May. Warum sie das getan hat und was es für die EU bedeutet

Will sich nun doch die Vollmacht des Volkes für den harten Brexit holen: Theresa May / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Und sie hat es doch getan: Monatelang wies die konservative britische Premierministerin Theresa May Spekulationen von sich, sie werde als Erbwalterin des Referendumsopfers David Cameron Neuwahlen abhalten – und damit ein zweites Referendum über die Frage, ob Großbritannien wirklich aus der Europäischen Union austreten soll.

Erbärmliche Konkurrenz für May

Jetzt, ein knappes Jahr nach dem Referendum, sieht die Sphinx von der Insel den Zeitpunkt als gekommen an, sich die Vollmacht für den harten Brexit in den Verhandlungen mit Brüssel vom eigenen Volk zu holen. Für den 8. Juni hat die Regierungschefin Neuwahlen anberaumt. Die Aussichten dafür sind gut. Vor allem, weil die Konkurrenz so erbärmlich schlecht dasteht. Der Oppositionsführer Jeremy Corbyn, ein Ritter von der traurigen Gestalt, hat die Labour-Partei in eine verlorene Position manövriert: Irgendwo im politischen Niemandsland zwischen „Remain“ und „Leave“, zwischen Bleiben und Gehen. Niemals lässt sich auf dieser Basis eine aussichtsreiche Kampagne gegen die Regierungschefin aufbauen.

Daher werden sich auch alle Hoffnungen zerstreuen, dass bei dieser Wahl nun all jene (junge) Menschen an die Wahlurne gehen und für einen Verbleib Großbritanniens stimmen, die sich seinerzeit lieber beim Musikfestival in Glastonbury vergnügten, als über ihre eigene Zukunft abzustimmen. Eine Katerstimmung, ein Bereuen, ein „Oh Gott, was haben wir getan?“ hat sich in Großbritannien nicht im großen Stil eingestellt. So sehnsüchtig man auf dem Kontinent auf ein solches „If only....“ gewartet hatte.

Möglicherweise wird eine dritte Kraft im Lande aus dieser vorgezogenen Parlamentswahl gestärkt hervorgehen. Die Liberaldemokraten haben im Unterschied zu den planlosen Labour-Leuten eine klare Position gegen den Ausstieg aus der Europäischen Union eingenommen. Aber das reicht natürlich nicht heran an die Haustür von Downing Street Number Ten, sondern allenfalls dazu, dass die Liberalen in ihrem Ergebnis Labour den zweiten Platz streitig machen. Dann stünden die britischen Sozialdemokraten vor der Aufgabe, Corbyn endlich von der Spitze wegzukriegen.

Trennlinie zwischen England und Schottland

Der Überraschungscoup der ausgebufften Premierministerin wird also voraussichtlich mehrere Dinge auf einmal klären. Und Implikationen über die Insel hinaus haben. Erstens wird die Fama beendet werden, die Mehrheit der Briten wolle den Ausstieg ihres Landes aus der EU nicht. Zweitens wird sich vermutlich abermals abzeichnen, dass eine Trennlinie durch Großbritannien geht: dass also England mehrheitlich zurück zur Eigenständigkeit möchte, während Schottland die Bande zum europäischen Festland stärken möchte –  dialektischerweise getrieben von einem Separatismus der schottischen National Party und ihrer Chefin Nicola Sturgeon. Aber auch die Widersacherin aus Edinburgh bekommt May bei einem Gelingen ihres Coups besser in den Griff.

Sturgeon hatte zuletzt ein weiteres Referendum über eine Abspaltung von Großbritannien abgelehnt und auf die Unterstützung der britischen Regierung und der Premierministerin gesetzt. Gut möglich, dass May nach der Wahl auch Ruhe an der schottischen Front bekommt. Denn der schottische Nationalismus führt mitnichten automatisch zu einer glühenden EU-Liebe. Die zwischen Gretna Green und Berwick-upon-Tweed verlaufende Demarkationslinie ist vermutlich doch nicht so scharfkantig in dieser Frage wie es zugunsten eines schottischen Separatismus insinuiert und instrumentalisiert wurde. Aus aufkeimendem Nationalismus ist noch nie Europabegeisterung erwachsen.

Druck auf die EU wächst

Schließlich wird sich die britische Neuwahl und ihr mutmaßlicher Ausgang einreihen in ein erstes politisches Halbjahr 2017, das mit dem faktischen Bruch der Türkei mit Europa, der Präsidentenwahl in Frankreich mit einer immer noch aussichtsreichen Kandidatin Marine le Pen und der Bestätigung der Brexit-Chefin Theresa May im Amt keine wirklichen Anzeichen aufweist, dass die Europäische Union aus der schwersten Krise ihrer Geschichte erstarkt hervorgeht. Daran ändert auch die kurzzeitige Erleichterung über den Wahlausgang in den Niederlanden nichts, der von Europafreunden im übrigen schöner gebetet wurde als er in Wirklichkeit war. Die Europäische Union steht weiterhin und mehr denn je unter existenziellem Druck. 

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