Großbritannien vor dem Brexit - Verbrannte Erde

Großbritannien kommt nicht zur Ruhe. Das Wirrwar um den Brexit fördert extreme Positionen zu Tage, auf der rechten wie der linken Seite. Der Premierministerin Theresa May droht nun die Ablösung durch einen erzkonservativen Widersacher

Theresa May gilt mittlerweile als „Dead Woman Walking“ / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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In dieser Woche kehrte das Parlament aus den Sommerferien zurück und stellte fest: Die Mitte der britischen Politarena ist verbrannte Erde. Der Versuch des ehemaligen Premierministers Tony Blair, eine zentristische Partei zu gründen, hat wenig Erfolgschancen. Dafür erfreuen sich einst exzentrische Hinterbänkler absurd hoher Beliebtheitsraten. Die beiden Hauptdarsteller in dieser britischen Tragikkomödie sind derzeit der umstrittene Labour-Chef Jeremy Corbyn und, neuerdings, Jacob Rees-Mogg.

Der Rechtsaußen aus der Tory-Elite

Jacob who? Rees-Mogg soll nach einer Umfrage der Tory-nahen Plattform „Conservative Home“ vom 5. September Premierministerin Theresa May beerben. 22 Prozent der befragten Konservativen wünschen sich den erklärten EU-Feind an der Spitze ihrer Partei. #Moggmentum ist noch absurder als es die Momentum-Bewegung für Jeremy Corbyn jemals war. Denn Rees-Mogg, ein 48-jähriger Tory aus Sommerset, gehört dem härtesten Brexit-Flügel der Partei an. Einst forderte er eine Koalition mit der europhoben Ukip-Partei. Über deren Ex-Chef Nigel Farage rümpfte sonst jeder in den konservativen Salons Englands nur die Nase. Der Katholik Rees-Mogg ist außerdem gegen die Homo-Ehe und gehörte zu den ersten Unterstützern von Donald Trump. Der hagere Mann mit Nickelbrille und tief hängendem Seitenscheitel wirkt zuweilen so boshaft und bubenhaft, als wäre er immer noch Schüler in Eton, dem Elite-Internat in Windsor, das er besucht hat.

Rees-Mogg weist es zwar weit von sich, aber im derzeitigen politischen Chaos ist nicht mehr auszuschließen, dass der Rechtsaußen an die Regierung geschwemmt werden könnte. Dann kann er versuchen, was er schon bisher propagiert: die EU ohne Übergangsabkommen zu verlassen. Er fordert bloß ein Freihandelsabkommen. Ein Sprung von der Klippe, der für Großbritannien eine ökonomische und politische Katastrophe bedeuten würde.

Rees-Mogg ist eine tickende Bombe

Rees-Moggs Höhenflug ist vielleicht nur eine sommerliche Episode. Doch die Wahrheit hinter dieser Schlagzeile ist für die Tories bedenklich. Unter David Cameron und seinem Schatzkanzler George Osborne waren die konservativen Tories eine pragmatische Partei, die in der EU ein notwendiges Übel sah. Seit Cameron für Partei und Land das von ihm leichtfertig angesetzte EU-Referendum verloren hat, sind die Tories in den antieuropäischen Wahnwitz abgerutscht. Die wenig erfolgreich regierende Premierministerin Theresa May konvertierte bei ihrem Amtsantritt in Downing Street 10 im Juli 2016 innerhalb von wenigen Stunden von einer säuerlichen Proeuropäerin zu einer harten Brexitierin. Seit der vorgezogenen Parlamentswahl am 8. Juni 2017, bei der sie die absolute Mehrheit der Tories verspielt hat, gilt sie als „Dead Woman Walking“. Ihre Ablöse ist nur eine Frage der Zeit, auch wenn sie selbst das gerade zurückgewiesen hat.

Ihr stärkster Konkurrent war lange Zeit Außenminister Boris Johnson – der charismatische Brexitier und Hofnarr, der es mit der Wahrheit nicht genau nimmt. Doch Johnson zeigt zu wenig Rückgrat und Arbeitseifer. Nur noch sieben Prozent wollen ihn nach Downing Street holen. Gute Karten als potenzieller Nachfolger hatte bisher David Davis, der Brexit-Minister. Der joviale 68-Jährige wirkt ein bisschen wie ein Leihonkel, der noch einmal in die erste Reihe der Politik zurückgekehrt ist, weil sich die Jüngeren zu unverantwortlich benommen haben. Doch nun ziehen die Konservativen Jacob Rees-Mogg mit 22 zu 15 Prozent als Nachfolger vor.

Dank der europafeindlichen Boulevardpresse herrscht im Vereinigten Königreich tatsächlich in breiten Teilen der Bevölkerung die Meinung, die EU sei eine regulationswütige ausländische Diktatur, gegen die jeder gute Brite mit dem Union Jack in der Hand auf die Barrikaden stürmen müsse. Ein britischer Premier Rees-Mogg würde keine feine Klinge führen, um in Brüssel einen eleganten Abgang auszufechten. Rees-Mogg ist eine tickende Bombe.

Tories und Labour werden sich ähnlicher

Auch bei der Labour-Partei haben die politischen Erdbeben der vergangenen zwei Jahre keinen Stein auf dem anderen gelassen. Über den unfassbaren Aufstieg des 68-jährigen Friedensaktivisten Jeremy Corbyn, der bis zu seiner überraschenden Wahl zum Parteichef 2015 nur Palästina-Freunden und Fahrrad-Aktivisten ein Begriff war, ist schon viel geschrieben worden. Seit den siebziger Jahren hatte der Abgeordnete des Nordlondoner Bezirks Islington scheinbar weder Kleidung noch politische Überzeugungen gewechselt. So wurde in einer Zeit der politischen Unruhe ob steigender Ungleichheit in der Gesellschaft und Brexit-Verunsicherung der graubärtige Labour-Mann mit der sanften Stimme der Überraschungshit des Wahlkampfes 2017. Labour gewann 32 Sitze. Gerade weil Corbyn mit seinen altbackenen Ideen glaubwürdig erschien. Jetzt sitzt er fester im Sattel denn je.

Als Labour-Linksaußen war er immer EU-Skeptiker. Schon deshalb konnte er 2016 nicht überzeugend für den Verbleib in der EU kämpfen. Viele Labour-Wähler fühlen sich von der EU bedroht. Sie erscheint ihnen als Vehikel für Migration und Globalisierung. Deshalb konnte man seit dem EU-Votum kaum einen Unterscheid zwischen Tories und Labour erkennen. Beide Parteien sind EU-feindlich geworden. Beide fordern, dass der Wille des Volkes zu akzeptieren sei und der Austritt aus der EU herbeigeführt werden müsse. Auch wenn sich der Volksentscheid 2016 als die größte Selbstbeschädigung einer europäischen Nation seit dem Zweiten Weltkrieg herausstellen sollte.

Britische Pro-Europäer hoffen weiter

Die Brexit-Verhandlungen mit Brüssel schleppen sich dahin. Nach wir vor wird keine klare Linie vorgegeben, wohin die Reise der Brexitannia eigentlich führen soll. Will Corbyn als Oppositionschef vom Brexit-Schlamassel der konservativen Regierung profitieren, dann muss er das Steuer herumreißen und einen Anti-Brexit-Kurs fahren. Das dürfte er inzwischen verstanden haben. Sein Schattenminister für die Brexit-Verhandlungen, Keir Starmer, verkündete Ende August zwar keine Kehrtwende, aber eine Kurskorrektur: Labour fordert jetzt für eine Übergangsphase, dass Großbritannien im EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion bleiben darf. Dafür nimmt das Land in Kauf, dass die Personenfreizügigkeit genauso in Kraft bleiben wird, wie die Rechtsprüche des Europäischen Gerichtshofes im Vereinigten Königreich Gültigkeit behalten werden.

Nach der Interimsperiode im Jahre 2022 könnten die EU und Großbritannien, so hoffen die britischen Pro-Europäer, die Karten noch einmal neu mischen. Außer natürlich, der EU-feindliche Monarchist Jacob Rees-Mogg hat dann das Zepter übernommen.

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