Großbritannien und die EU - Keiner weiß, was Brexit heißt

Ab Donnerstag soll es einen neuen britischen EU-Kommissar in Brüssel geben. Das ist aber die einzige klare Maßnahme knapp drei Monate nach dem Brexit-Votum. Über die Zukunft der europäisch-britischen Beziehungen herrscht auf der Insel noch immer Verwirrung

Im britischen Parlament gibt es viele verschiedene Vorstellungen vom Brexit / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Der neue britische EU-Kommissar wird wohl auch der letzte sein. Sir Julian King, bisher britischer Botschafter in Paris, soll nach Brüssel wechseln. Am Donnerstag dürfte er vom Europaparlament bestätigt werden. Kings Job als Juniorkommissar für Sicherheit wurde extra von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erfunden, nachdem sein britischer Vorgänger Jonathan Hill, der das mächtige Finanzressort geleitet hatte, frustriert seinen Hut genommen hatte. In der EU-Kommission soll der 52-jährige Diplomat King noch Dienst nach Vorschrift schieben, bis sein Land den Brexit vollendet hat.

Wann das sein wird, weiß allerdings niemand. Knapp drei Monate nach dem Votum der Briten für einen Austritt aus der EU herrscht immer noch vollkommene Unklarheit über die Zukunft der europäisch-britischen Beziehungen. „Brexit heisst Brexit“, beschwört die neue konservative Regierungschefin Theresa May ihre Landsleute. Der Slogan klingt mittlerweile etwas hohl. Es ist nicht einmal abzuschätzen, wann Frau May den Artikel 50 des Lissabon-Vertrages auslösen wird. Erst mit dieser offiziellen Mitteilung an die EU-Partner beginnt die zweijährige Frist, an deren Ende der Austritt steht.

Torys zerstritten, Labour lahmgelegt

Die Lage der Premierministerin ist vertrackt. Sie hat ein klares Votum von 51,9 Prozent des Volkes für den Austritt aus der EU. Doch keiner weiß, welches Brexit-Modell für Großbritannien gewählt werden soll. Bisher hat die britische politische Klasse sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was Brexit wirklich heißen könnte. Am größten sind dabei die Unterschiede innerhalb der regierenden konservativen Tory-Partei. Die Labour-Party ist dank ihrer Führungsquerelen als Opposition lahmgelegt.

May, ehemalige Innenministerin, konnte sich selbst nie ganz entscheiden, ob sie in der EU bleiben wollte oder nicht. In der Ausübung ihres Amtes hat sie sehr wohl die Vorteile der EU-Kooperation schätzen gelernt und würde daher heute einen „Brexit light“ befürworten. Gleichzeitig sieht sie die Einschränkung der Einwanderung als ihren Auftrag. Der Hass auf EU-Immigranten spielte in der Referendums-Kampagne eine große Rolle. Als Premierministerin wird ihr andererseits erst jetzt die Tragweite der Brexit-Entscheidung bewusst: Schränkt sie die EU-Immigration ein, kann sie den Zugang zum EU-Binnenmarkt vergessen. Großbritanniens Wirtschaft würde darunter sehr leiden.

Übereifrige „Brexitiere“

Zur Zeit ist die 59-jährige Vikarstochter hauptsächlich damit beschäftigt, ihre übereifrigen „drei Brexitiere“ zurückzupfeifen. Außenminister Boris Johnson, Brexit-Minister David Davis und Liam Fox, Minister für internationalen Handel, fordern einen „harten Brexit“. Davis wurde öffentlich von ihr gerügt, weil er im House of Commons erklärt hatte, es sei „sehr unwahrscheinlich, dass Britannien im Binnenmarkt“ bleibe. Boris Johnson gilt als führende Figur in „Change Britain“, einer neuen Lobby-Gruppe führender Brexit-Befürworter, die sich ihren Sieg nicht verwässern lassen wollen: „Wir wollen die Kontrolle über Grenzen, Gesetze, Geld und Handel von der EU zurück in das Vereinigte Königreich holen.“

Modell Norwegen, Kanada oder Schweiz?

Setzen sich die harten Brexitiere durch, dann sind die meisten der bisher durchgespielten Austritts-Szenarien nicht gangbar. Das Modell Norwegen sieht einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EEA) vor. Zugang zum Binnenmarkt bedeutet aber auch Freizügigkeit der EU-Arbeitnehmer und Milliarden an Beitragszahlungen. Und keine politischen Rechte.

Sehr viel härter ist die kanadische Variante: Großbritannien würde ein Handelsabkommen mit der EU ohne Zugang zum Binnenmarkt und ohne Freizügigkeit bekommen. Erst nach Jahren käme es zu einem Abkommen, bis dahin gäbe es hohe Zölle und harte Grenzen. Die Briten, hofft etwa Liam Fox, könnten sich dann als Niedrigsteuerland für Großkonzerne etablieren. Apple-Manager, die gerade eine 13 Milliarden schwere Steuernachzahlung von der EU aufgebrummt bekommen haben, könnten mit London und dem Finanzstandort City flirten.

Viele Wirtschaftsexperten warnen allerdings davor, dass genau dieser Finanzstandort weniger attraktiv wird, wenn Firmen von London aus nicht mehr das Passport-Recht haben, automatisch auf den EU-Raum zuzugreifen. Deshalb raten viele zur Schweizer Option. Die Schweiz hat sektorale Abkommen mit der EU geschlossen: Selektiver Zugang zum EU-Binnenmarkt gehört dazu, das Land ist auch assoziiertes Mitglied bei Schengen- und Dublin-Abkommen. Vor- und gleichzeitig Nachteil dieses Modells: Es kann ständig nachgebessert werden. 2014 etwa stimmten die Eidgenossen in der „Volksinitiative Gegen Masseneinwanderung“ mehrheitlich gegen die EU-Freizügigkeit. Bisher wurde das Ergebnis des Volksentscheids nicht umgesetzt. Aus gutem Grund: Die bilateralen Abkommen zwischen der EU und der Schweiz hängen zusammen, fällt die Freizügigkeit, dann auch der Zugang zum Binnenmarkt.

Die Briten hoffen auf  „kreative Verhandlungen“

Statt sich am eigenen Schopf aus dem Brexit-Morast zu ziehen, beginnen die Briten jetzt zu hoffen, dass die EU diesen Job für sie erledigen könnte. Wer weiß, wer nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland nach 2017 die europäische Politik steuern wird? Einige Nationalstaaten rütteln immerhin selbst längst an EU-Dogmen. So möchten die Holländer eine „Notbremse“ für Personenfreizügigkeit. Genau das wollen die Polen und andere Osteuropäer natürlich verhindern. „Doch es gibt genug Spielraum für kreative Verhandlungen“, konstatiert Gideon Rachman in der Financial Times. Der Chefkommentator für Weltpolitik hofft darauf, dass die EU sich in einen föderalistischen und einen euroskeptischen Zweizonen-Raum aufgliedert, in dem Britannien seinen Platz finden könnte. Und dass Brüssel die Europäische Union in Zukunft nicht wie ein berüchtigtes kalifornisches Gefängnis managt: „Die EU wie Alcatraz zu behandeln...ist letztendlich nicht der beste Weg, um den Block zusammenzuhalten.“

Theresa May wird diesen Kommentar in 10 Downing Street mit Interesse gelesen haben. Ohnehin scheint es derzeit, als würde sie auf Zeit spielen. Wenn die konservative Regierungschefin tatsächlich darauf wartet, dass die EU sich bewegt, dann muss sie umsichtig regieren und ihre wildgewordenen „Brexitiere“ im Zaum halten.

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