Großbritannien - Doch ein Exit vom Brexit?

Weil sich die britische Regierung auf keine Linie bei den Brexit-Verhandlungen einigen kann, werden zunehmend Stimmen laut, die ein zweites Referendum fordern. Ein Hindernis bleibt allerdings bestehen

58 Prozent der Briten stehen einem zweiten Referendum inzwischen „eher positiv“ gegenüber / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Lord Adonis bekämpft den Brexit, koste es, was es wolle. „Wir brauchen ein zweites Referendum“, fordert der proeuropäische Labour-Politiker. „Jetzt, wo die Folgen für Großbritannien immer klarer werden, sollten die Briten noch einmal abstimmen dürfen.“ Andrew Adonis war vom damaligen Premierminister Tony Blair 2005 lebenslänglich ins House of Lords geschickt worden. Um die Kampagne für ein zweites EU-Referendum leiten zu können, hat der 54-jährige ehemalige Minister im Dezember sogar seinen Job als Vorsitzender der regierungsnahen Kommission für Nationale Infrastruktur aufgegeben. Sein hartes Urteil: „Der Brexit hat zu einem Nervenzusammenbruch in Whitehall geführt.“

Bis Oktober 2018 soll zwischen London und Brüssel ein Scheidungsvertrag und ein Übergangsabkommen zum Austritt aus der EU ausgehandelt werden. Danach müssen die Parlamente aller EU-Staaten den Vertrag noch ratifizieren. Dann wollen die Briten am 29. März 2019 die EU verlassen.

Wollen die Briten aber überhaupt noch austreten? Die jüngste Umfrage des Instituts YouGov hat ergeben, dass 47 Prozent der befragten Briten der Meinung sind, dass Großbritannien mit dem Brexit einen Fehler macht. Nur 42 Prozent halten die Entscheidung per Volksabstimmung vom Juni 2016 noch für richtig. Nach einer ICM-Umfrage stehen 58 Prozent einem zweiten Referendum eher positiv gegenüber. 

Es riecht nach Verrat gegen May

Trotz dieser neuen Umfragedaten scheint sich die Stimmung im gespaltenen Land zwischen Freunden und Feinden der EU nicht verändert zu haben – wenn, dann wird der Ton noch unversöhnlicher. Theresa May steht im Zentrum des Sturms. Sie weiß immer noch nicht, was sie in Brüssel aushandeln soll, weil sich innerhalb ihres Kabinetts harte und softe Brexitiere auf keine Position einigen können. Kein Wunder, dass sich in der Bevölkerung Verunsicherung breit macht. Selbst der konservative The Spectator titelte „Führe oder geh!“, daneben eine Karikatur der hageren Premierministerin, die dem Publikum den gebeugten Rücken zukehrt.

Es riecht nach Verrat. Überall. Regierungschefin Theresa May muss jeden Tag damit rechnen, dass einer ihrer Minister ihr mit einem Dolch im Gewande entgegentritt. Außenminister Boris Johnson etwa will selbst gerne Premier werden. Damit nicht genug: Als Nachfolger für Theresa May wünschen sich laut Umfragen die Konservativen den noch extremeren EU-Feind Jacob Rees-Mogg. Innerhalb der Tory-Partei gibt es außerdem Rebellen des anderen Lagers, die einen allzu harten Brexit verhindern wollen. Moderate Konservative wie Nicky Morgan oder Anna Soubry wurden deshalb vom Boulevardblatt Daily Mail schon des „Verrats“ bezichtigt. 

Proben die Beamten den Aufstand?

Erstmals in der Geschichte Großbritanniens tut sich noch eine weitere Front auf: Die Beamtenschaft, sonst treue Diener ihrer politischen Herren, scheinen keine sicheren Verbündeten mehr zu sein. Am Dienstag wurde eine regierungsinterne Studie an das Internetmedium Buzzfeed geleakt, in der die Folgen der verschiedenen Brexit-Modelle auf die britische Wirtschaft errechnet werden: Demnach kommt jede Austritts-Variante dem Vereinigten Königreich teurer als der Status quo. Steve Baker, Unterstaatssekretär für den Brexit, deutete daraufhin am Donnerstag im House of Commons an, die Staatsdiener hätten absichtlich negative Zahlenmodelle produziert.

Der Vorwurf der Meuterei ist für britische Verhältnisse ein unerhörter Angriff. Ist doch die Beamtenschaft auch zu Zeiten des Empires immer das unparteiliche Rückgrat jeder Regierung gewesen. „Wie der Brexit-Minister über die Beamten spricht, zeigt, was der Brexit hier anrichtet“, sagt Pat McFadden. Bis vor zwei Jahren war der zentristische Proeuropäer Schattenaußenminister. McFadden fürchtet, dass das Votum für den Brexit „eine nationalistische Antwort auf die Globalisierung ist. Die Probleme werden vom EU-Austritt nicht gelöst.“

Labour kann aus Situation keinen Profit schlagen

Die oppositionelle Labour-Partei hätte also alle Chancen, die Krise der Regierung in den Brexit-Verhandlungen auszunutzen. Will der EU-skeptische Labour-Chef Jeremy Corbyn aber seine Partei auf Anti-Brexit-Kurs einschwören? Bisher konnte er sich nicht dazu entschließen, das Ruder herumzureißen und die permanente Mitgliedschaft im „Single Market“ zu fordern. Die offizielle Linie lautet, dass man so nah wie möglich am EU-Binnenmarkt bleiben will: „Großbritannien hat für den Brexit gestimmt, also müssen wir austreten, ... nicht sehr weit, aber doch“, stellt Corbyns loyale Schattenaußenministerin Emily Thornberry fest. Ihrer Meinung nach kann Labour nicht an der Tatsache vorbei, dass „die Einwanderung ein bedeutendes Thema bei der Brexit-Entscheidung war“.

Eine neue Umfrage aber zeigt, dass nicht nur Premierministerin May Schwierigkeiten hat, eine gemeinsame Linie zwischen Partei und Parlamentsfraktion zu finden. Bei Labour sieht es mit umgekehrten Vorzeichen ähnlich aus. 87 Prozent der Labour-Mitglieder – darunter viele Junge, die mit der Europäischen Union aufgewachsen sind – wollen einer Umfrage von Ipsos Moris nach zumindest im EU-Binnenmarkt bleiben – in diesem Fall könnte die Einwanderung aus Europa nicht beschränkt werden. Das scheinen die meisten in Ordnung zu finden. 

Anti-Bexit-Graswurzelbewegung formiert sich

Diese Chance wollen jetzt die Proeuropäer aller Parteien nutzen. Unter der Führung von Labour-Zentrist Chuka Umunna und Tory-Rebel Anna Soubry hat sich eine Koordinations-Gruppe der Basis zusammengefunden. Die GCG („Grassroots Coordinating Group“) bündelt verschiedenste Anti-Brexitiere, um entweder ein zweites Referendum oder eine sinnvolle Abstimmung im Parlament zur europäischen Zukunft des Vereinigten Königreichs zu fordern. 

Solange aber keine der beiden großen Parteien in Großbritannien umschwenkt und den bereits beschlossenen Austritt aus der EU wieder absagen will, wird ein Exit vom Brexit schwer zu realisieren sein. 

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